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Interesse als Kategorie zur Erforschung frühneuzeitlicher Außenbeziehungen. Überlegungen am Beispiel der Westfälischen Friedensverhandlungen

Interesse als Kategorie zur Erforschung frühneuzeitlicher Außenbeziehungen. Überlegungen am... „Man kann es geradezu als ein Weltwunder bezeichnen, daß derartig auseinanderstrebende Interessen sich in dem gemeinsamen Willen getroffen haben, ihre eigenen Dinge zusammen mit den Angelegenheiten der gesamten Christenheit an einem einzigen Ort auszuhandeln.“Übersetzung nach: Konrad Repgen, Friedensvermittlung und Friedensvermittler beim Westfälischen Frieden, in: Westfälische Zeitschrift 147, 1997, 37. Die Relationen der Botschafter Venedigs über Deutschland und Österreich im siebzehnten Jahrhundert, 1. Bd.: K. Mathias bis K. Ferdinand III., hrsg. v. Joseph Fiedler (Fontes Rerum Austriacarum, 2. Abteilung: Diplomatica, Bd. 26.) Wien 1866, 293: „Si può chiamare una delle merauiglie del mondo, che in un sol lougo habbino, tanti diversamente interessati di commum parere acconsentito, che si trattino li propij con gl’affari di tutta Christianità.“ So schilderte der venezianische Vermittler auf dem Westfälischen Friedenskongress Alvise Contarini rückblickend die Aufgabe, die er und seine Kollegen während der Friedensverhandlungen zu bewältigen hatten. Dies ähnelt der modernen Definition von Verhandeln laut einem Klassiker der Verhandlungsführung, die Verhandeln als „back-and-forth communication designed to reach an agreement when you and the other side have some interests that are shared and others that are opposed“Roger Fisher/William Ury/Bruce Patton, Getting to Yes. Negotiating Agreement without Giving in. 2nd Ed. Boston 1991, XVII. versteht. Eine Einigung – hierzu zählt auch ein Friedensschluss – bedeutet, widerstreitende Interessen auszugleichen.Interesse erscheint als wertneutrale, feststehende und vielfältig einsetzbare Kategorie. Der Begriff ist omnipräsent in den Internationalen Beziehungen, dient aber auch der Definition und Abgrenzung gesellschaftlicher Gruppen. In den Politikwissenschaften, der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften, der Anthropologie und den Geschichtswissenschaften gehört der Ausdruck zum Standardvokabular; dies zeigt auch das aktuell so lebendige Feld frühneuzeitlicher Außenbeziehungen sowie der Diplomatiegeschichte.Zur Neuen Diplomatiegeschichte überblicksartig z. B.: Tracey A. Sowerby, Early Modern Diplomatic History, in: History Compass 14, 2016, 441–456. Mit Fokus auf den Westfälischen Friedenskongress: Dorothée Goetze/Lena Oetzel, Der Westfälische Friedenskongress zwischen (Neuer) Diplomatiegeschichte und Historischer Friedensforschung, in: H-Soz-Kult 20.12.2019, 1–77, <www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-4137>. Grundlegend u. a.: Hillard von Thiessen/Christian Windler (Hrsg.), Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. (Externa, Bd. 1.) Köln/Weimar/Wien 2010; Peter Burschel/Birthe Kundrus (Hrsg.), Thema: Diplomatiegeschichte. (HA, Bd. 21/2.) Köln/Weimar/Wien 2013. Seit dem 17. Jahrhundert gilt Interesse als „Schlüsselkonzept der politischen Sprache“.Nadir Weber, Lokale Interessen und große Strategie. Das Fürstentum Neuchâtel und die politischen Beziehungen der Könige von Preußen (1707–1806). (Externa, Bd. 7.) Köln/Weimar/Wien 2015, 63. Ähnlich: Albert Otto Hirschman, The Concept of Interest. From Euphemism to Tautology, in: Ders., Rival Views of Market Society and Other Recent Essays. New York 1986, 35–55, 45; Herfried Münkler, Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1987, 270. In diesem Sinne betitelte Heinz Schilling seinen Band im „Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen“ mit „Konfessionalisierung und Staatsinteressen“Heinz Schilling, Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559–1660. (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, Bd. 2.) Paderborn 2007, 147–159.: Neben Dynastie, Religion/Konfession und Tradition entwickele sich das „Staatsinteresse“ zur Leitkategorie frühneuzeitlicher Außenbeziehungen. In der Neuen Diplomatiegeschichte wird aus akteurszentrierter Perspektive von den Interessen der Akteurinnen und Akteure gesprochen; Interesse sei ein „Kernbegriff der Patron-Klient-Rhetorik“Anuschka Tischer, Diplomaten als Patrone und Klienten. Der Einfluss personaler Verflechtungen in der französischen Diplomatie auf dem Westfälischen Friedenskongress, in: Rainer Babel (Hrsg.), Le diplomate au travail. Entscheidungsprozesse, Information und Kommunikation im Umkreis des Westfälischen Friedenskongresses. (Pariser Historische Studien, Bd. 65.) München 2005, 173–197, 176. Ähnlich u. a.: Dorothea Nolde, Was ist Diplomatie und wenn ja, wie viele? Herausforderungen und Perspektiven einer Geschlechtergeschichte der frühneuzeitlichen Diplomatie, in: Burschel/Kundrus (Hrsg.), Diplomatiegeschichte (wie Anm. 3), 179–198, 187; Birgit Emich, Die Formalisierung des Informellen: Ein Beitrag zur Verwaltungsgeschichte der Frühen Neuzeit, in: Peter Eich/Sebastian Schmidt-Hofner/Christian Wieland (Hrsg.), Der wiederkehrende Leviathan. Staatlichkeit und Staatswerdung in Spätantike und Früher Neuzeit. (Akademikerkonferenzen, Bd. 4.) Heidelberg 2009, 81–95, 92.. Auch im Bereich der frühneuzeitlichen Wissensgeschichte werden der Begriff, sein ökonomischer Ursprung und dessen Implikationen zunehmend diskutiert.Dies gilt besonders im späten 17. und 18. Jahrhundert und findet hier deshalb nur am Rande Beachtung: Vgl. Julia A. Schmidt-Funke, Konkurrenz – ein Analysebegriff für die Wissensgeschichte der Frühen Neuzeit? In: Franziska Neumann/Jorun Pöttering/Hillard von Thiessen (Hrsg.), Konkurrenzen (Frühneuzeit-Impulse, Bd. 4.) Köln/Weimar/Wien 2022 [in Vorbereitung]; Marian Füssel, Die symbolischen Grenzen der Gelehrtenrepublik. Gelehrter Habitus und moralische Ökonomie des Wissens im 18. Jahrhundert, in: Martin Mulsow/Frank Rexroth (Hrsg.), Was als wissenschaftlich gelten darf. Praktiken der Grenzziehung in Gelehrtenmilieus der Vormoderne. Frankfurt am Main 2014, 413–437, 415; Harold John Cook, Matters of Exchange. Commerce, Medicine, and Science in the Dutch Golden Age. New Haven, CT 2007, 45 f.; Jacob Sider Jost, Interest and Connection in the Eighteenth Century. Hervey, Johnson, Smith, Equiano, Charlottesville, VA/London 2020. Gleichzeitig wird weithin das Fehlen einer klaren und anwendbaren Definition beklagt; der Begriff wird gar als mythisch diskreditiert.Vgl. Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: GG 28, 2002, 574–606. Grundlegend: Richard Swedberg, Interest. Maidenhead 2005, 6. Tatsächlich wird selten tiefergehend reflektiert, was mit Interesse gemeint ist.Die folgenden Ausführungen wollen sich diesem prominenten, aber oft unscharfen Terminus nähern, indem sie zunächst einen Überblick über seinen Stellenwert in verschiedenen modernen Wissenschaftsdisziplinen geben, um dann den frühneuzeitlichen Gebrauch im politiktheoretischen Diskurs und in der diplomatischen Praxis zu betrachten. Als Fallstudie dient die diplomatische Kommunikation auf dem Westfälischen Friedenskongress. Diese eignet sich insofern, als halb Europa zu den Verhandlungen in Münster und Osnabrück versammelt war, also ein breites europäisches Panorama der Verwendung des Interessenbegriffs in der diplomatischen Praxis gezeichnet werden kann. Die Studie liefert einen Überblick über die Gebrauchsformen und prüft, inwieweit diese dem zeitgenössischen theoretischen Diskurs entsprachen. Hierauf aufbauend lässt sich schließlich der Begriff als modernes kulturgeschichtlich fundiertes Analysekonzept adaptieren.I.Der Interessenbegriff in der modernen ForschungDer Interessenbegriff ist, ausgehend von der schottischen Aufklärung (David Hume, Adam Smith) und später dem Utilitarismus (Jeremy Bentham, John Stuart Mill)Vgl. Swedberg, Interest (wie Anm. 8), 14–23., stark von einer wirtschaftswissenschaftlichen Sicht und dem Konzept eines ökonomisch, rational geprägten Eigeninteresses als Leitkategorie menschlichen Handelns geprägt. Hierauf fußt die Theorie des homo oeconomicusZur Bedeutung des Interessenbegriffs in den Wirtschaftswissenschaften vgl. ebd. 28–33., die weiterentwickelt die Grundlage für rational choice, agency und Spieltheorien bildet, die ebenfalls auf eine Kosten-Nutzen-Kalkulation abzielen. Diese wirtschaftswissenschaftliche Dominanz führt tendenziell zu einer Verengung des Konzepts. Daher bemühen sich gerade Soziologie und Politikwissenschaften, den Begriff zu weiten, so dass er menschliche Verhaltensweisen in allen Lebensbereichen erfassen kann.In den Politikwissenschaften spielt der Begriff im Bereich der politischen Systeme sowie in den Internationalen Beziehungen eine wichtige Rolle. Erstere fokussieren auf gesellschaftliche Interessengruppen und deren Zusammenwirken mit anderen sozialen und politischen Institutionen. Das Interessenkonzept ermöglicht es, Individuum und Gesellschaft in Relation zueinander zu setzen.Vgl. Ulrich von Alemann, Grundlagen der Politikwissenschaft. Ein Wegweiser. (Grundwissen Politik, Bd. 9.) Opladen 1994, bes. 145 f.; Peter Massing/Peter Reichel (Hrsg.), Interesse und Gesellschaft. Definitionen, Kontroversen, Perspektiven. München 1977; Sider Jost, Interest (wie Anm. 7), 5. Grundlegend für die Internationalen Beziehungen ist die Annahme, dass internationale Beziehungen von potenziellen Interessenkonflikten zwischen staatlichen bzw. nichtstaatlichen Akteuren geprägt sind, wobei der Begriff durchaus kontrovers ist.Vgl. August Pradetto, Interessen und „nationale Interessen“ in der Außen- und internationalen Politik. Definition und Reichweite des Begriffs, in: Olaf Theiler/Ulrich Albrecht (Hrsg.), Deutsche Interessen in der sicherheitspolitischen Kommunikation. (Schriften der Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation, Bd. 24.) Baden-Baden 2001, 33–68, 33; Alexander Siedschlag, Definition und Reichweite des Interessenbegriffs in den internationalen Beziehungen. Unter besonderer Berücksichtigung innenpolitischer Aspekte der Interessendefinition in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, in: ebd., 17–32; Ortwin Buchbender, Der Interessenbegriff in der sicherheitspolitischen Diskussion, in: ebd., 10–15, 10. Gerade in der Bundesrepublik Deutschland wurde der Terminus lange mit der negativen Dominanz nationaler Interessen der jüngeren deutschen Geschichte assoziiert. Immer wieder ist schlagwortartig die Rede von „nationalen“ oder „geostrategischen“ Interessen.Vgl. Ulrich Albrecht, Interessen in der internationalen Außen- und Sicherheitspolitik, in: Theiler/Albrecht (Hrsg.), Deutsche Interessen (wie Anm. 12), 112–120, 112. Der Interessenbegriff findet sich in vielen Einführungen zu den Internationalen Beziehungen meist ohne Definition, z. B. Christian Tuschhoff, Internationale Beziehungen. Konstanz 2015, 282 definiert den Begriff im Glossar. Garrett W. Brown/Iain McLean/Alistair McMillian (Eds.), The Concise Oxford Dictionary of Politics and International Relations. 4th Ed. Oxford 2018, haben Einträge zu „national interest“, „interest groups“, „public interest“ und „interests, individual“. Ältere Forschungen, gerade der Realismus, betrachteten Interesse als objektive Kategorie, an der Staaten ihr Handeln ausrichten sollten. Die heutige Forschung versteht Interessen dagegen als von Regierungen definiert und geprägt von kulturellen und gesellschaftlichen Normen und Werten.Vgl. Siedschlag, Definition (wie Anm. 12), 17; Klaus Roscher, Ideen, Weltbilder, Normen und Handlungsrepertoires. Die kulturelle Wende in den Internationalen Beziehungen, in: Birgit Schwelling (Hrsg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen. Wiesbaden 2004, 231–252. Kulturwissenschaftlich, psychologisch oder soziologisch inspirierte Ansätze, wie Forschungen zu foreign policy decision-making, nehmen neben Staaten zunehmend individuelle Akteurinnen und Akteure als Trägerinnen und Träger von Interessen in den Blick bzw. hinterfragen die Genese der Interessendefinition.Vgl. James Goldgeier/Philip Tetlock, Psychological Approaches, in: Christian Reus-Smit/Duncan Snidal (Eds.), The Oxford Handbook of International Relations. (The Oxford Handbooks of Political Science.) Oxford 2010, 462–480; Friedrich Kratochwil, Sociological Approaches, in: ebd., 444–461; Douglas T. Stuart, Decision-Making, in: ebd., 576–593.Dies deckt sich mit soziologischen Ansätzen, die auf Einzelakteurinnen und -akteure und die Frage, wie Interessen ihre Handlungen beeinflussen, fokussieren. Anders als im Modell des homo oecomonicus erscheint Interesse nicht begrenzt auf ein rationales, ökonomisches Eigeninteresse, „but as part of a world that is deeply irrational and emotional“.Swedberg, Interest (wie Anm. 8), 33. Auch: M. Rainer Lepsius, Interessen, Ideen und Institutionen. Wiesbaden 1990, 7. Dabei wird dem Interesse als handlungsleitendem Faktor ein unterschiedlich großer Stellenwert beigemessen: von bedeutungslos bis hin zur alles bestimmenden Kraft menschlichen Handelns.Vgl. überblicksartig Swedberg, Interest (wie Anm. 8), 34–77. Z. B.: Ulrich Willems, Moralskepsis, Interessenreduktionismus und Strategien der Förderung von Demokratie und Gemeinwohl. Eine kritische Sichtung politiktheoretischer Reflexionen über Interesse und Moral als Orientierung politischen Handelns, in: Ders. (Hrsg.), Interesse und Moral als Orientierungen politischen Handelns. (Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, Bd. 4.) Baden-Baden 2003, 9–98. Auffallend ist in der modernen Soziologie – wie auch in anderen Disziplinen –, dass Interesse zwar zum Standardvokabular gehört, aber nicht den Stellenwert eines eigenen Konzepts hat wie noch in der klassischen Soziologie. Richard Swedberg spricht von einem „‚proto-concept‘ or a term that is used without awareness and conceptual precision“.Swedberg, Interest (wie Anm. 8), 48. Bereits Hartmut Neuendorff, Der Begriff des Interesses. Eine Studie zu den Gesellschaftstheorien von Hobbes, Smith und Marx. Frankfurt am Main 1973, 21. Entsprechend verwundert nicht das Fehlen eines Eintrags in soziologischen Handbüchern, vgl. etwa Johannes Kopp/Anja Steinbach (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie. 11. Aufl. Wiesbaden 2016; Sina Farzin/Stefan Jordan (Hrsg.), Lexikon Soziologie und Sozialtheorie. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart 2015.Trotz dieses Mangels an klaren Definitionen kristallisieren sich einige Grundeigenschaften des Interessenkonzepts heraus. Der Politikwissenschaftler August Pradetto definiert Interesse als „eine Konstellation zwischen einem individuellen oder kollektiven Akteur und einem von ihm wertgeschätzten materiellen oder ideellen Objekt”.Pradetto, Interesse (wie Anm. 12), 34. Ähnlich: Neuendorff, Begriff (wie Anm. 18), 17. Im Folgenden wird deshalb von den Akteurinnen und Akteuren bzw. den Subjekten des Interesses und dem Bezugsobjekt bzw. -punkt des Interesses gesprochen. Im Fokus steht das Interesse als verbindendes Element. Es handelt sich um ein relationales Konzept, mit dessen Hilfe Beziehungen zwischen (kollektiven und individuellen) Akteurinnen bzw. Akteuren und Gesellschaft erkennbar und sagbar werden.Vgl. u. a. Swedberg, Interest (wie Anm. 8), 7; Pradetto, Interessen (wie Anm. 12), 34; Sider Jost, Interest (wie Anm. 7), 5. Interessen sind dabei in ihrer Genese „ideenbezogen”Lepsius, Interessen (wie Anm. 16), 7. Auch: Ursula Lehmkuhl, Diplomatiegeschichte als internationale Kulturgeschichte: Theoretische Ansätze und empirische Forschung zwischen Historischer Kulturwissenschaft und Soziologischem Institutionalismus, in: GG 27, 2001, 394–423, 407 f.; Axel Gotthard, Krieg und Frieden in der Vormoderne, in: Hans-Christof Kraus/Thomas Nicklas (Hrsg.), Geschichte der Politik. Alte und Neue Wege. (HZ, Beih. 44.) München 2007, 67–94, 77., das heißt, sie sind in ihrer spezifischen Ausprägung abhängig vom historischen Kontext, von Normen und Werten der Akteurinnen und Akteure. Sie stehen nicht alleine, sondern immer in Verbindung mit moralischen Diskursen.Vgl. Martin Papenheim, From “Interest” to the “Political”. Speaking of Ruling and Reigning in Early Modern Europe, in: Willibald Steinmetz/Ingrid Gilcher-Holtey/Heinz-Gerhard Haupt (Eds.), Writing Political History Today. (History of Political Communication, Vol. 21.) Frankfurt am Main/New York 2013, 45–55, 54 f.Auch in der Geschichtswissenschaft ist der Terminus zwar präsent, wird aber häufig unreflektiert verwendet. Deutlich zeigt sich der Einfluss der klassischen Sicht der Internationalen Beziehungen, die nach nationalen oder staatlichen Interessen fragt. Genau dies wurde im Zuge des cultural turn kritisiert. Interesse galt als Konzept einer veralteten Diplomatiegeschichte, in der ‚große Männer‘ scheinbar objektive ‚staatliche Interessen‘ vertraten.Vgl. zu dieser Kritik: Wilfried Loth, Einleitung, in: Ders./Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Internationale Geschichte. Themen, Ergebnisse, Aussichten. (Studien zur Internationalen Geschichte, Bd. 10.) München 2000, VII–XIV, hier VII. Gegen diese Kritik wurde eingewandt, Interesse könne weiterhin nützlich sein, um Macht und Machtverhältnisse rational zu analysieren.Vgl. Thomas Nicklas, Politik zwischen Agon und Konsens. Monarchische Macht, ständische Gegenmacht und der Wille zum Zusammenleben im frühneuzeitlichen Europa, in: Kraus/Nicklas (Hrsg.), Geschichte der Politik (wie Anm. 21), 183–200, bes. 194. Auch dem liegt ein Verständnis von Interesse als einer objektivierbaren Kategorie zugrunde. Tatsächlich ist Interesse aber weder rational noch mythisch, sondern zunächst einfach beschreibend. Als Analysekategorie hilft es, relationale, meist gesellschaftliche, aber auch individuelle Konstellationen zu untersuchen; hier liegt das Potenzial für eine kulturgeschichtlich basierte Nutzung des Begriffs.Trotz der Kritik hat der Begriff seine Stellung behauptet. Gerade die Frühneuzeitforschung hat zu seiner begriffsgeschichtlichen Fundierung beigetragen.Vgl. z. B. Schilling, Konfessionalisierung (wie Anm. 5), 151 f. Vgl. zur Begriffsgeschichte u. a. Martin Papenheim, Interest (wie Anm. 22); Ernst Wolfgang Orth, Interesse, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3. Stuttgart 1982, 302–344, 362–365; Volker Gerhardt, Interesse, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4. Basel 1976, 479–494. Jüngst trugen die kulturgeschichtlich geprägten Studien von Nadir Weber und Philip Haas den Begriff groß im Titel. Beide nutzen ihn weitgehend in seiner zeitgenössischen Bedeutung im Sinne von Staatsräson, untersuchen jedoch nicht seinen Gebrauch in der politisch-diplomatischen Praxis.Vgl. Weber, Lokale Interessen (wie Anm. 4), bes. 63 f.; Philip Haas, Fürstenehe und Interessen. Die dynastische Ehe der Frühen Neuzeit in zeitgenössischer Traktatliteratur und politischer Praxis am Beispiel Hessen-Kassels. (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, Bd. 177.) Darmstadt/Marburg 2017, bes. 28. In einer kleinen Fallstudie hat Samuel Weber gezeigt, wie das zeitgenössische Interessenkonzept von einem diplomatischen Akteur rezepiert und adaptiert wurde.Vgl. Samuel Weber, Ein Verteidiger adliger „Interessen“ gegen republikanische „Leidenschaften“. Nuntius Federico Borromeo als Akteur im Zwyerhandel (1656–1659), in: Philippe Rogger/Nadir Weber (Hrsg.), Beobachten, Vernetzen, Verhandeln. Diplomatische Akteure und politische Kulturen in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft. (Itinera, Bd. 45.) Basel 2018, 45–67, bes. 58 f. Insgesamt verschiebt die Neue Diplomatiegeschichte den Fokus zusätzlich: Obwohl weiterhin von dynastischen, konfessionellen oder territorialen Interessen die Rede ist, wird zunehmend eine stärker soziologisch beeinflusste Perspektive eingenommen, die Interesse als Element sozialen Handelns verstehtVgl. Lehmkuhl, Diplomatiegeschichte (wie Anm. 21), 408.; die „Eigen“interessen diplomatischer Akteurinnen und Akteure geraten in den Blick. Dennoch fehlt auch hier eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff, seinen Grenzen und Potenzialen.II.Interesse im politiktheoretischen Diskurs des 16. und 17. JahrhundertsEtymologisch kommt Interesse vom Lateinischen „inter esse“ und bedeutet „dazwischen liegen/von Bedeutung sein/dabei sein“, was bereits auf die relationale Struktur hinweist.Vgl. Anm. 25. Seit dem 16. Jahrhundert weitete sich der Begriff, der bis dahin – auf das römische Recht zurückgehend – vor allem in einem ökonomischen Kontext im Sinne von Schadensersatz, Zinsen („id quod interest“) sowie Nutzen oder Schaden im Allgemeinen verwendet wurde; er wurde anthropologisiert und politisiert. Dabei lassen sich im 16. und 17. Jahrhundert drei zentrale Diskursbereiche ausmachen: politische Theorie, Naturrecht und Moralphilosophie.Vgl. Johan Heilbron, French Moralists and the Anthropology of the Modern Era: On the Genesis of the Notions of “Interest” and “Commercial Society”, in: Ders./Lars Magnusson/Björn Wittrock (Eds.), The Rise of the Social Sciences and the Formation of Modernity. Conceptual Change in Context, 1750–1850. Dordrecht 1998, 79–83. Vgl. zu den ökonomischen Diskursen: Wolf-Hagen Krauth, Gemeinwohl als Interesse. Die Konstruktion einer territorialen Ökonomie am Beginn der Neuzeit, in: Herfried Münkler/Harald Bluhm (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe. (Forschungsberichte der interdisziplinären Arbeitsgruppe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I.) Berlin 2001, 191–212; Neuendorff, Begriff (wie Anm. 18), 10–16.Der Begriff des Staatsinteresses avancierte im politischen Diskurs zum handlungsleitenden Prinzip, wobei er in enger Verbindung mit dem Konzept der Staatsräson – oder mit Blick auf das Reich den Arcana Imperii – stand. Naturrecht und Moralphilosophie hingegen nutzten den Terminus zur Beschreibung der menschlichen Natur. Die Idee des interessengeleiteten Menschen wurde zur Basis verschiedener naturrechtlicher Konzepte.Vgl. u. a. Heilbron, Moralists (wie Anm. 30), 79–82; Münkler, Namen (wie Anm. 4), 261. Zum Naturrechtsdiskurs vgl. u. a. Lionel A. McKenzie, Natural Right and the Emergence of the Idea of Interest in Early Modern Political Thought: Francesco Guicciardini and Jean de Silhon, in: History of European Ideas 4, 1981, 277–298. Für französische Philosophen wie Michel de Montaigne und François de La Rochefoucauld waren Interessen Triebfedern menschlichen Handelns. Aus der spanischen Moraltheologie kam eine negativ konnotierte Sicht auf das Einzelinteresse im Sinne von Eigennutz als Gegensatz zur Tugend und, übertragen auf das Politische, zum Gemeinwohl hinzu.Vgl. Gerhardt, Interesse (wie Anm. 25), 481 f. Diese negative Sicht erklärt für Papenheim, Interest (wie Anm. 22), 50, weshalb sich Interesse als politisches Konzept nur langsam durchsetzte. Zum Verhältnis von Gemeinwohl und Eigennutz vgl. Winfried Schulze, Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der frühen Neuzeit, in: HZ 243, 1986, 591–626; eine Reflexion des zeitgenössischen Interessenbegriffs fehlt. Mit der Zeit – und im Wechselspiel mit der politischen Theorie – wurde diese negative Sicht von einer pragmatischeren abgelöst, die den Menschen als interessengesteuert beschrieb.Vgl. Heilbron, Moralists (wie Anm. 30), 81, 87. Dies zeigt sich bei Montaigne und La Rochefoucauld ebenso wie bei Balthasar Gracián. Eigeninteresse und gemeinschaftliche Interessen wurden gegenübergestellt; zwar sei es in der Regel schädlich und dem Gemeinwohl unterzuordnen, dennoch dürfe es nicht ignoriert werden.Michel de Montaigne, Les Essais. Édition complète, bearb. v. André Lanly. Paris 2009, Buch III, Kap. I, 971. Interesse – obwohl meist negativ konnotiert – diente der Beschreibung menschlichen Handelns. In diesem Sinne wurde der Begriff auch im 18. Jahrhundert im wissenschaftlichen Gelehrtendiskurs aufgegriffen, um das Mit- und Gegeneinander der Forschenden zu beschreiben. Deutlich tritt hier wieder der Einfluss des Ökonomischen hervor, also der ursprünglichen Bedeutung von Interesse als Kosten-Nutzen-Kalkulation.Vgl. Füssel, Grenzen (wie Anm. 7), 415; Schmidt-Funke, Konkurrenz (wie Anm. 7); Cook, Matters (wie Anm. 7), 45 f.Der politiktheoretische Diskurs um Staatsinteressen und Staatsräson bewegte sich ebenfalls zwischen einer negativen Beurteilung und einer wertneutralen bis positiven Sicht: Im Kontext des Anti-Machiavellismus-Diskurses lautete der Vorwurf, interessenorientiertes Handeln verstoße gegen Religion, Moral und Tugend. Gleichzeitig erschien Interesse als scheinbar objektive Kategorie, die als Handlungsmaßstab eines Fürsten oder Gemeinwesens herangezogen werden konnte und Politik kalkulier- und berechenbar machen sollte.Vgl. Michael Stolleis, Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt am Main 1990, bes. 43–50, 60, 66 ff.; Nicklas, Politik (wie Anm. 24), 191.Als erster differenzierte Francesco Guicciardini zwischen Eigen-, Partikular- und Staatsinteressen: Da diese in einem Spannungsverhältnis stünden, müsse man die eigenen, „wahren“ Interessen erkennen, um das politische Handeln danach ausrichten zu können.Vgl. Heilbron, Moralists (wie Anm. 30), 79 f.; Papenheim, Interest (wie Anm. 22), 49 f. Für Giovanni Botero wiederum bedeutete die Verfolgung der Staatsräson Regieren entsprechend der Staatsinteressen, die er von Religion oder anderen Handlungsmaximen abgrenzte.Vgl. Heilbron, Moralists (wie Anm. 30), 80; Münkler, Namen (wie Anm. 4), 201 f. Eine derartige Gegenüberstellung löste sich mit der Zeit auf, so dass Interesse nicht mehr im Gegensatz zu moralischem Handeln stand, sondern als wertneutrale Beschreibung herangezogen wurde, die den Vorteil hatte, nicht theologisch oder transzendental aufgeladen zu sein.Vgl. Stolleis, Staat (wie Anm. 36), 66–68; Papenheim, Interest (wie Anm. 22), 50 f.Europaweit über Konfessionsgrenzen hinweg rezipiert wurde Henri de Rohans „De l’interest des princes et Estats de la chrestienté“Henri de Rohan, De l’interest des princes et Estats de la chrestienté. Paris 1639. Die Schrift wurde posthum ins Englische und Deutsche übersetzt: Henri de Rohan, A Treatise of the Interest of the Princes and States of Christendome. Written in French by the most noble and illustrious Prince, the Duke of Rohan. Translated into English by H[enry] H[unt]. Paris 1640; Henri de Rohan, Interesse Der Potentaten und Stände: Oder Unpassionirter Discurs, Worinnen der fürnemsten Potentaten und Stände der Christenheit / wares Interesse, Wolfahrt und Auffnemmen dieser Zeit bestehe: Was jeder auch für Reguln und Puncten in seiner Regierung in obacht zu nemmen habe: Sampt angehengten etlichen Historischen Exempeln […] Auß dem Frantzösischen in das Teutsche ubergesetzet 1640. Vgl. Jonathan Dewald, Status, Power, and Identity in Early Modern France. The Rohan Family, 1550–1715. University Park, PA 2015; J. H. M. Salmon, Rohan and Interest of State, in: Roman Schnur (Hrsg.), Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs. Berlin 1975, 121–140. Im Rahmen des Deutsch-Französischen Doktorandenkollegs Mainz–Dijon entsteht eine Dissertation zu Rohan, vgl. Timo Andreas Lehnert, Gleichgewicht, Konfession, Krieg. Henri de Rohan (1579–1638) und die internationalen Beziehungen in Europa, in: Markus Meumann (Hrsg.), Dreißigjähriger Krieg Online – Projekte, https://thirty-years-war-online.net/?s=lehnert (2.01.2021). (1639). Der Hugenottenführer schilderte die aktuelle französische auswärtige Politik als pragmatisch und interessengelenkt.Vgl. William Farr Church, Richelieu and Reason of State. Princeton, NJ 1972, 353 f. Interessen sollten zur Richtschnur politischen Handelns werden, nicht Leidenschaften oder „falsche“ Interessen. Letztere führten zu Unglück, wie die Konflikte des Dreißigjährigen Krieges belegten.Vgl. Rohan, De l’interest (wie Anm. 40), 26 f.; ders., Interesse (wie Anm. 40), 19. Auf den Punkt bringt Rohan dies in der vielzitierten ersten Passage:„Les Princes commandent aux peuples, l’interest commande aus princes. La connoissance de cét interest, est d’autant plus relevée par dessus celle des actions des Princes, qu’eux mesmes le sont par dessus les peuples. Le Prince se peut tromper, son conseil peut ester corrompu; mais l’interest seul ne peut iamais manquer selon qu’il est bien ou mal entendu, il fait viure ou mourir les Estats.”Ders., De l’interest (wie Anm. 40), 1.Für Rohan stand der Fürst im Mittelpunkt, dessen Interessen mit denen des Staates gleichzusetzen waren.Vgl. Salmon, Rohan (wie Anm. 40), 139 f.Aufschlussreich ist der Vergleich mit der deutschen Übersetzung (1640)Vgl. zur Rezeption in der Politik- und Rechtswissenschaft im 17. Jahrhundert Wolfgang E. J. Weber, Lateinische Geheimnisse. Außenpolitisches Handeln und Außenpolitik in der Politikwissenschaft des 17. Jahrhunderts, in: Heinz Duchhardt/Martin Espenhorst (Hrsg.), Frieden übersetzen in der Vormoderne. Translationsleistungen in Diplomatie, Medien und Wissenschaft. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 92.) Göttingen 2012, 67–88, bes. 83 f., die signifikante Unterschiede aufweist:„Die Fürsten gebieten ihren Underthanen, deß Lands Wolfahrt aber, gebeut vnd verbindt den Fürsten: Wie nun der Fürst mehr ist als seine Unterthanen, Also ist an rechter Erkandtnus deß Lands Interesse vnd Wolfahrt auch mehr, als an all andern seinem Thun vnd Lassen gelegen. Ein Fürst kann zu zeiten zu milt berichtet, vnd seine Raeth corrumpirt vnd bestochen werden: Deß Lands Wolfahrt aber kann nimmer fehlen.“Rohan, Interesse (wie Anm. 40), 1. Hervorhebungen der Verfasserin. Die Übersetzung von 1645 weicht bereits im Titel ab: Henri de Rohan, Interesse Der Potentaten vnd Stände Europae […], o.O. 1645. Vgl. Nicolas Detering, Krise und Kontinent. Die Entstehung der deutschen Europa-Literatur in der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2017, 185 f. Ähnliche Abweichungen beobachtet Paul bei Übersetzungen herrschaftstheoretischer Literatur ins Englische, vgl. Joanne Paul, Counsel and Command in Early Modern English Thought. (Ideas in Context, Vol. 125.) Cambridge/New York 2020, 9.Das französische „interest“ wird, wie auch im Folgenden, mit „Wohlfahrt“ und „Interesse“ übersetzt, was dem Ganzen eine gemeinwohlorientierte Konnotation verleiht.Zur Nähe von Gemeinwohl, öffentlichem oder allgemeinem Interesse vgl. Herfried Münkler/Harald Bluhm, Einleitung. Gemeinwohl und Gemeinsinn als politisch-soziale Leitbegriffe, in: Dies. (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn (wie Anm. 30), 9–30, 12 f. Die deutsche Fassung des Instrumentum Pacis Osnabrugensis (IPO) übersetzt „publicè interest“ mit „gemeinem Wesen“. IPO Art. IX,1 = § 67 IPM, Abschnitt III, Acta Pacis Westphalicae, Serie III: Protokolle, Verhandlungsakten, Diarien, Varia, Abteilung B: Verhandlungsakten, Bd. 1: Die Friedensverträge mit Frankreich und Schweden. Teilbd. 2: Materialien zur Rezeption, bearb. von Guido Braun, Antje Oschmann und Konrad Repgen. Münster 2007 (APW III B 1, 2), Nr. 1, 376. Ähnlich wird „l’interest des Princes“Rohan, De l’interest (wie Anm. 40), 1. als Interesse der „Potentaten vnd Ständ“Ders., Interesse (wie Anm. 40), 2. interpretiert. Im Kontext des Reiches rücken das Gemeinwesen und die Stände als politische Einheiten in den Fokus. Dies stützt Haas’ Beobachtung einer ausgeprägten Nähe von Interesse und Gemeinwohl in zeitgenössischen, deutschsprachigen Traktaten zu dynastischer Politik.Haas, Fürstenehe (wie Anm. 26), 23. Sowie: Münkler/Bluhm, Einleitung (wie Anm. 47), 19.Die deutschsprachige Staatsrechtsdebatte stand Konzepten von Staatsräson, Staatsinteressen und den Arcana Imperii zunächst distanziert gegenüber.Stolleis, Staat (wie Anm. 36), 60. Vgl. zum Verhältnis der italienischen, französischen und deutschen Staatsräson-Debatte Michael Behnen, „Arcana – haec sunt ratio status“. Ragion di Stato und Staatsräson. Probleme und Perspektiven (1589–1651), in: ZHF 14, 1987, 129–195. Auch als das dahinterstehende Gedankengut längst in die politische Praxis eingeflossen war, war man bemüht, sich nicht dem Vorwurf des Machiavellismus auszusetzen.Vgl. Stolleis, Staat (wie Anm. 36), 66. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts versachlichte sich die Debatte. Gerade in den Außenbeziehungen nahm man an, Fürsten würden von je spezifischen kollektiven Interessen geleitet; für den Bestand eines Staatswesens sei es nicht klug, sich allein von Tugend und Moral führen zu lassen. Michael Stolleis betrachtet diese Entwicklung als Basis für die Entstehung des modernen Völkerrechts.Vgl. ebd., 68. Ähnlich: Schilling, Konfessionalisierung (wie Anm. 5), 151 f. Dabei löste mitnichten eine säkulare – aber letztlich modern gedachte – Staatsräson die ältere Leitkategorie Dynastie ab; vielmehr wurde die Dynastie und damit dynastische Politik als Ganzes in die Debatte um Staatsräson und Staatsinteressen integriert. Dynastische Ehen erschienen als Mittel der Staatsräson.Vgl. Haas, Fürstenehe (wie Anm. 26), 109. Ähnliches gilt für Religion. Sie wurde zwar zum Teil politischen Überlegungen und Prinzipien untergeordnet, verlor aber nicht ihre Bedeutung als Handlungsmaßstab, das heißt Religion wurde verstärkt aus Perspektive der Staatsräson diskutiert. Konfessionelle und machtpolitische Überlegungen vermischten sich.Vgl. Schilling, Konfessionalisierung (wie Anm. 5), 150 f.; Ulrich Scheuner, Staatsräson und religiöse Einheit des Staats. Zur Religionspolitik in Deutschland im Zeitalter der Glaubenskämpfe, in: Schnur (Hrsg.), Staatsräson (wie Anm. 40), 363–405, 378, 389; Behnen, Arcana (wie Anm. 51), 190, passim.Zwei Punkte werden deutlich: Erstens fokussieren die theoretische Debatte in Frankreich und im Alten Reich auf den Bereich der Außenbeziehungen. In England hingegen fand der Begriff – befördert durch den Bürgerkrieg – bald mit Blick auf das Gegeneinander und den Ausgleich verschiedener gesellschaftlicher Interessengruppen in einem innenpolitischen Kontext Verwendung.Vgl. J. A. W. Gunn, “Interest Will Not Lie”: A Seventeenth-Century Political Maxim, in: JHIdeas 29, 1968, 553–555; ders., Politics and the Public Interest in the Seventeenth Century. London/Toronto 1969, 36–41; Albert Otto Hirschman, The Passions and the Interests. Political Arguments for Capitalism before Its Triumph. Princeton, NJ 1981, 37; Paul, Counsel (wie Anm. 46), bes. 153–160. Mit Blick auf das 18. Jahrhundert: Sider Jost, Interest (wie Anm. 7). Zweitens zeigen der staatstheoretische sowie der moralisch-philosophische Diskurs, dass Interesse sowohl eine präskriptiv-normative als auch eine deskriptiv-analytische Dimension innewohnte. Gerade bei Rohan überwog scheinbar das normative Moment, indem die Interessen des Fürsten bzw. des Staates als Leitlinie propagiert wurden.Vgl. Münkler, Namen (wie Anm. 4), 265, 279. Gleichzeitig zeigt sich insbesondere bei der Analyse der verschiedenen Fallbeispiele bereits der deskriptive Aspekt. Interesse erscheint als objektive Kategorie, nach der nicht nur das eigene Handeln ausgerichtet werden soll, sondern die es zugleich ermöglicht, das Gegenüber – ob es sich nun um Individuen oder Staatswesen handelt – einzuschätzen und sein zukünftiges Verhalten zu prognostizieren. Menschliches Handeln wirkt auf diese Weise kalkulier- und berechenbarer. Dies ist im Kontext der von Stolleis konstatierten Verwissenschaftlichung des politischen Theoriediskurses im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts zu betrachten: Wie die Natur wurden auch der Mensch und das politische Gemeinwesen beobachtet.Vgl. Stolleis, Staat (wie Anm. 36), 50. Interesse ist damit als Element politischer Sprache zu verstehen, mit dessen Hilfe relationale Verhältnisse im Sinne von „x hat ein Interesse an y“ beschrieben und artikuliert werden konnten.Vgl. Papenheim, Interest (wie Anm. 22).Die Interessendefinitionen suggerieren dabei Objektivität; tatsächlich sind sie norm- und wertebasiert.Laut Hillard von Thiessen sind „Normen […] Handlungserwartungen, die sich idealerweise […] auf Werte beziehen. Werte verleihen Normen Legitimität […]. Werte stellen generelle Orientierungsstandards dar und sind von einer Gemeinschaft geteilte, relativ stabile Vorstellungen vom Wünschenswerten.“ Hillard von Thiessen, Normenkonkurrenz. Handlungsspielräume, Rollen, normativer Wandel und normative Kontinuität vom späten Mittelalter bis zum Übergang zur Moderne, in: Arne Karsten/Hillard von Thiessen (Hrsg.), Normenkonkurrenz in historischer Perspektive. (ZHF, Beih. 50.) Berlin 2015, 241–286, 248 f. Das heißt, die Akteurinnen und Akteure bewerten sich bzw. das Gegenüber anhand nicht explizit ausgeführter Maßstäbe und beanspruchen so Deutungshoheit. Im Kontext frühneuzeitlicher Außenbeziehungen spielen Religion, Reputation, Dynastie, Gemeinwohl, aber auch Vorstellungen von Sicherheit und Frieden eine Rolle, wobei die jeweiligen Interpretationen zwischen den verschiedenen Akteurinnen und Akteure divergieren konnten und potenziell veränderlich sind.Vgl. z. B. Schilling, Konfessionalisierung (wie Anm. 5), 147–159; Michael Rohrschneider, Reputation als Leitfaktor in den internationalen Beziehungen der Frühen Neuzeit, in: HZ 291, 2010, 331–352; Christoph Kampmann, Der Ehrenvolle Friede als Friedenshindernis. Alte Fragen und neue Ergebnisse zur Mächtepolitik im Dreißigjährigen Krieg, in: Inken Schmidt-Voges/Siegrid Westphal/Volker Arnke/Tobias Bartke (Hrsg.), Pax perpetua. Neuere Forschungen zum Frieden in der Frühen Neuzeit. (bibliothek altes Reich, Bd. 8.) München 2010, 141–156; ders., Politischer Wandel im Krieg – politischer Wandel durch Krieg? Militärische Gewalt und politische Innovation in der Epoche des Dreißigjährigen Kriegs, in: Michael Rohrschneider/Anuschka Tischer (Hrsg.), Dynamik durch Gewalt? Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) als Faktor der Wandlungsprozesse des 17. Jahrhunderts. (Schriftenreihe zur Neueren Geschichte. NF, Bd. 1.) Münster 2018, 41–67; Inken Schmidt-Voges/Ana Crespo Solana, Introduction: New Worlds? Transformations in the Culture of International Relations around the Peace of Utrecht, in: Dies. (Eds.), New Worlds? Transformations in the Culture of International Relations Around the Peace of Utrecht. (Politics and Culture in Europe, 1650–1750.) Florence 2017, 1–17, bes. 6 f. Interessendiskurse stehen stets in Verbindung mit anderen, moralischen Diskursen, um Bedeutung zu erlangen.Vgl. Papenheim, Interest (wie Anm. 22), 54 f.; Schmidt-Voges/Crespo Solana, Introduction (wie Anm. 61), 6 f.Inwiefern sich diese theoretischen Debatten in der diplomatischen Praxis widerspiegeln, soll anhand der diplomatischen Kommunikation auf dem Westfälischen Friedenskongress schlaglichtartig untersucht werden. Ob die Gesandten die staatsrechtlichen Debatten rezipierten, lässt sich schwer überprüfen. In Einzelfällen ist bekannt, dass sie im Besitz zentraler Werke waren.Vgl. Schilling, Konfessionalisierung (wie Anm. 5), 155, 158. Samuel Weber zeigt, wie der Nuntius in Luzern, Federico Borromeo, Rohans Konzept adaptierte, ohne vermutlich die Schrift selbst gelesen zu haben. Vgl. Weber, Verteidiger (wie Anm. 27), bes. 58 f. Gotthard fordert eine „Wahrnehmungs- und Mentalitätsgeschichte der Entscheider“, Gotthard, Krieg (wie Anm. 21), 81. Erste Einblicke bei Magnus Ulrich Ferber, Die Gemeinschaft der Diplomaten in Westfalen als Friedenspartei, in: Dorothée Goetze/Lena Oetzel (Hrsg.), Warum Friedenschließen so schwer ist. Frühneuzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses. (Schriftenreihe zur Neueren Geschichte. NF, Bd. 2.) Münster 2019, 257–272. Gerade unter den kaiserlichen und reichsständischen Gesandten verfügten etliche über eine juristische Ausbildung und dürften mit den Staatsräsondebatten vertraut gewesen sein.Der braunschweigisch-lüneburgische Gesandte Jakob Lampadius promovierte im Bereich des ius publicum. Vgl. Volker Arnke, Gewalt, Frieden und das ius publicum der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Goetze/Oetzel (Hrsg.), Friedenschließen (wie Anm. 63), 307–322, hier 308. Um den Bogen zur diplomatischen Praxis zu schlagen, sollen im Folgenden die Instruktionen, die Berichterstattung, die Sitzungsprotokolle der Reichsstände und die Friedensverträge auf die Verwendung des Interessenbegriffs untersucht werden.III.Der Interessenbegriff in den Westfälischen FriedensverhandlungenEine begriffsgeschichtliche Analyse kann nur eine begrenzte Sicht liefern, da Interessen auch dann von den Akteurinnen und Akteuren als handlungsleitend verstanden werden können, wenn sie diese nicht explizit benennen.Vgl. zur Kritik an der Begriffsgeschichte: Luise Schorn-Schütte, Historische Politikforschung. Eine Einführung. München 2006, 73–77. Harald Mayer weist auf Grenzen und Potenziale hin und resümiert, dass die „These, dass Begriffe als ‚Indikatoren‘ und ‚Faktoren‘ der von ihnen erfassten geschichtlichen Ereignis- und Handlungszusammenhänge einzuschätzen sind, […] immer noch hilfreich für die Kontextualisierung politisch-sozialer Begriffe [scheint]“. Harald Meyer, Die „Taishō-Demokratie“. Begriffsgeschichtliche Studien zur Demokratierezeption in Japan von 1900 bis 1920. (Welten Ostasiens, Bd. 4.) Bern 2005, 115. Dennoch eröffnet eine Bestandsaufnahme der Verwendung des Interessenbegriffs in den Westfälischen Friedensverhandlungen den Blick auf den zeitgenössischen Gebrauch in der Praxis: Wie wurde über Interessen gesprochen? Um wessen Interessen handelte es sich? Wer war woran interessiert? Welche Interessen galten als legitim oder illegitim? Interesse darf dabei nicht – wie die Quellen suggerieren – als objektive Kategorie verstanden werden. Vielmehr handelt es sich um Zuschreibungen mit spezifischen kommunikativen Funktionen.Vgl. Hillard von Thiessen/Christian Windler, Einleitung. Außenbeziehungen in akteurszentrierter Perspektive, in: Dies. (Hrsg.), Akteure der Außenbeziehungen (wie Anm. 3), 1–12, hier 5; Schmidt-Voges/Crespo Solana, Introduction (wie Anm. 61), 6 f. Dieser Beitrag will schlaglichtartig das Untersuchungsgebiet ausleuchten, um abschließend grundlegende methodische Überlegungen anstellen zu können.Vgl. auch mit tiefergehenden Einzelstudien zum taktischen Gebrauch von Interessenkommunikation und der Prioritätensetzung in Entscheidungsfindungsprozessen demnächst die Habilitation der Autorin.Grundlage bildet ein breites Spektrum diplomatiegeschichtlicher Quellen, die unterschiedliche Akteurinnen und Akteure in verschiedenen Kontexten berücksichtigen: (1) die Friedensverträge zwischen Spanien und den Niederlanden (Friede von Münster), dem Kaiser und Frankreich (IPM) sowie dem Kaiser und Schweden (IPO)Diese sind ediert in Acta Pacis Westphalicae (APW), Serie III: Protokolle Verhandlungsakten, Diarien, Varia, Abteilung B: Verhandlungsakten, Bd. 1: Die Friedensverträge mit Frankreich und Schweden, Teilbd. 1: Urkunden, bearb. v. Antje Oschmann. Münster 1998 (APW III B 1,1); sowie das Glossar: http://www.pax-westphalica.de/ipmipo/index.html (29.11.2021). Der spanisch-niederländische Frieden liegt als Faksimile-Druck vor: Der Frieden von Münster 1648. Der Vertragstext nach einem zeitgenössischen Druck und die Beschreibungen der Ratifikationsfeiern, hrsg. v. Gerd Dethlefs/Johannes Arndt/Ralf Klötzer. Münster 1998., (2) die kaiserlichen, französischen, spanischen und schwedischen sowie für die Reichsstände die kurbayerischen und kursächsischen InstruktionenDie Instruktionen des Kaisers, Frankreichs und Schwedens sind ediert in: APW, Serie I: Instruktionen, Bd. 1: Instruktionen: Frankreich, Schweden, Kaiser, bearb. v. Fritz Dickmann, Kriemhild Goronzy, Emil Schieche, Hans Wagner und Ernst Manfred Wermter. Münster 1962 (APW I 1). Berücksichtigt wurden jeweils die letzte Fassung der Hauptinstruktion sowie die aktuellen Neben- und Geheiminstruktionen: APW I 1, Nr. 5, 11, 12 (Frankreich), 17–20 (Schweden), 26–29 (Kaiser); Geheiminstruktion für den spanischen Prinzipalgesandten Peñaranda vom 25.02.1664 (Konzept: Madrid, Archivo Histórico Nacional, Sección de Estado [AHN Estado], legajo 2880, unfol.; für die Bereitstellung der Transkription danke ich Michael Rohrschneider); Die diplomatische Korrespondenz Kurbayerns zum Westfälischen Friedenskongress. Bd. 1: Die Instruktionen von 1644, hrsg. von der Kommission für Bayerische Landesgeschichte, bearb. v. Gerhard Immler. (Quellen zur neueren Geschichte Bayerns, Bd. 1.) München 2000, Nr. II, III; Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Geheimes Archiv [HStAD, GA], Loc. 8130/1, fol. 152–193’., (3) kaiserliche, schwedische, französische und kursächsische Korrespondenzen, (4) Diarien kaiserlicher und reichsständischer Gesandter sowie (5) die Beratungsprotokolle der reichsständischen Kurien.Vgl. die Aktenedition Acta Pacis Westphalicae (APW), hrsg. v. der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste (seit 1979) in Verbindung mit der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e. V. durch Max Braubach (†), Konrad Repgen (†) und Maximilian Lanzinner. Münster 1962–2015, bis 2008 erschienene Bände online zugänglich unter: https://apw.digitale-sammlungen.de/ (29.11.2021).Die stichprobenartige Analyse liefert Einblicke in die vielfältige Verwendung des Interessenbegriffs von unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren in verschiedenen europäischen Sprachen, in diversen Kontexten: Mit den Instruktionen ist die offizielle Linie der höfischen Entscheidungsträger berücksichtigt, während die Korrespondenzen den internen Sprachgebrauch der Gesandten mit den Heimathöfen erfassen. Die Protokolle geben Einblick in die Verwendung des Interessenbegriffs der Reichsstände in den Beratungen. Die Verträge spiegeln die endgültige offizielle diplomatische Sprache wider.Eine Bestandsaufnahme auf Basis der Friedensverträge zeigt, dass Formen von Interesse zum Standardvokabular gehörten: Im Vertrag zwischen dem Kaiser und Schweden finden sich 15 verschiedene Verwendungen, im Vertrag zwischen Kaiser und Frankreich acht. In den deutschen und französischen Übersetzungen sind es etwas weniger, da hier auf äquivalente Ausdrucksweisen zurückgegriffen wurde.Auskunft über die Übersetzungsvielfalt bietet das Glossar (APW III B 1,2) (wie Anm. 47); http://www.pax-westphalica.de/ipmipo/index.html (29.11.2021). Im spanisch-niederländischen Friedensvertrag werden in der lateinischen Fassung zwei Mal Formen von Interesse verwendet, in der deutschen sechs Mal, in der niederländisch-spanischen sieben Mal.Frieden von Münster (wie Anm. 68), 71–143.Bereits hier zeigt sich die sprachliche Verwendungsvielfalt: Interesse tritt als Substantiv, als substantiviertes Adjektiv und als Verb auf: „qui sont intéresséz en la Paix”APW I, 1 (wie Anm. 69), Nr. 10, 144. „Romerske rijkes interesse“Ebd. Nr. 17, 234, „aller Interessierten“Fernere Instruction: HStAD, GA (wie Anm. 69), Loc. 8130/1, fol. 176., „los intereses comunes de sangre y de estado”Konzept: AHN, Estado, legajo 2880 (wie Anm. 69), unfol.. Der Begriff wird dabei meist durch vorangestellte Adjektive, Komposita oder besitzanzeigende Substantive inhaltlich präzisiert; etwa den Zusatz, um wessen Interessen es sich handelt, um den Bezugspunkt und/oder die Art des Interesses. Andernfalls bliebe der Begriff eine „Leerformel”Pradetto, Interessen (wie Anm. 12), 34. Auch: Neuendorff, Begriff (wie Anm. 18), 17; Papenheim, Interest (wie Anm. 22), 54 f..Ähnlich findet sich der Interessenbegriff als Element interner Entscheidungsfindungsprozesse, wie ihn Gutachten, Instruktionen und Resolutionen abbilden. Eine Analyse der eigenen sowie der gegnerischen Interessen bildete die Grundlage für die Weisungen an die Diplomaten am Verhandlungsort. Um das Spektrum der Begriffsverwendung zu verdeutlichen, soll exemplarisch diese interne Interessenabwägung anhand kaiserlicher Gutachten und Instruktionen beleuchtet werden, die die kaiserlichen Interessen resultierend aus der Rollenvielfalt Ferdinands III. reflektieren.Die Rollen Ferdinands III. als Reichsoberhaupt und Habsburger bargen Konfliktpotential, wobei ein Hauptproblem die viel beschworene Einheit der Casa de Austria war.Grundlegend: Thiessen, Normenkonkurrenz (wie Anm. 60), 249 f. Zur kaiserlichen Rollenvielfalt u. a. Lena Oetzel, Zwischen Dynastie und Reich. Rollen- und Interessenkonflikte Ferdinands III. während der Westfälischen Friedensverhandlungen, in: Katrin Keller/Martin Scheutz (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie und der Dreißigjährige Krieg. Jahrestagung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 2018. (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Bd. 73.) Köln/Weimar/Wien 2020, 161–176; Dorothée Goetze, Frieden um (fast) jeden Preis – Die Politik Ferdinands III. in der Schlussphase des Westfälischen Friedenkongresses zwischen Rollenkonkurrenz, Prinzipientreue und dogmatischem Pragmatismus, in: Volker Arnke/Siegrid Westphal (Hrsg.), Der schwierige Weg zum Westfälischen Frieden. Wendepunkte, Friedensversuche und die Rolle der „Dritten Partei“. (bibliothek altes Reich, Bd. 35.) München 2021, 131–154. Von Beginn an hatte der Kaiser betont, nicht ohne Spanien Frieden schließen zu wollen:„Eß ist aber dise meine intention zuemahl nit dahin angesehen, daß man wegen deß Spanischen interesse die reichs- und fridenshandlungen mit Schweden, Franckreich oder auch den protestierenden aufhalte, sondern dieselbige sovil nun mensch- und müglich befördere […], jedoch dergestalt, daß der schluß deß fridens ohne inclusion der cron Spanien nicht geschehe.“Ferdinand III. an Trauttmansdorff, Linz 1646 Juli 10, APW, Serie II: Korrespondenzen, Abt. A: Die kaiserlichen Korrespondenzen, Bd. 4: 1646, bearb. v. Hubert Salm, Brigitte Wübbeke-Pflüger, Wilhelm Engels, Manfred Klett, Antje Oschmann. Münster 2001 (APW II A 4), Nr. 247, 409. Hervorhebung der Verfasserin, so auch im Folgenden. Vgl. Dorothée Goetze, Einleitung, in: APW, Serie II: Korrespondenzen, Abteilung A: Die kaiserlichen Korrespondenzen, Bd. 10: 1648–1648, bearb. v. ders. Münster 2015 (APW II A 10), XLIII–CXVII, LXf.; Oetzel, Dynastie (wie Anm. 78), 171–175.Ferdinand III. wollte weder einen Frieden ohne Spanien noch die Verhandlungen mit den Reichsständen respektive Frankreich gefährden. Tatsächlich vermied er eine endgültige Positionierung, bis der Friedensschluss hieran fast gescheitert wäre. Der Druck von Seiten der Reichsstände „den friden umb fremdes interesse willen nit aufzuhalten”Nassau, Krane und Volmar an Ferdinand III., Münster 1648 September 25, APW II A 10 (wie Anm. 79), Nr. 28, 138., wie es die kaiserlichen Gesandten in einer Relation vom September 1648 schrieben, wuchs beständig. Eine Neugewichtung der Interessen fand schließlich ihren Ausdruck in einem Gutachten des Geheimen Rats, das „[d]ie entscheidende Wende“Goetze, Einleitung (wie Anm. 79), LXIV. in der kaiserlichen Politik und ein gutes Beispiel für eine differenzierte Interessenabwägung darstellt:„Nun is zu betau[er]n, nit allin vor Euer Mayestät, sonder vor deß ganzen Reichs und christenheit interesse, daß die reichsstende sich so weit bloß gegeben, daß ein solliches [der Universalfriede] nit mehr von Franckhreich zu hoffen, es sey dan, das die cron Franckhreich selbst erkenne, daß ihr interesse ist, mit Spanien ingleichem frieden zu machen […]. Wie dem allem [sei], so haben Euer Mayestät ihres orths bißher alles gethan, was sie ex societate belli et coniunctione sanguinis et connexitate interesse communis immer tuen kinden und mögen […].“Gutachten im Geheimen Rat (Trauttmansdorff, Martiniz d. J., Kurz, Auersperg, Prickhelmayr), APW II A 10 (wie Anm. 79), Nr. 18, 83 f.Im Folgenden wurden detailliert die Vor- und Nachteile abgewogen mit dem Schluss, dass es keine Alternative gebe, „Ihrer Mayestät erzhauß in Teutschlandt zu salviren, auch des königs in Hispanien interesse und königreich von noch grösserer gefahr zu retten“.Ebd. 94.Hier zeigen sich zentrale Elemente der Verwendung von Interesse: (1) Es muss klargestellt werden, um wessen Interesse es sich handelt (Akteur). Mit Spanien, Frankreich, dem Kaiser, dem Reich, der Christenheit und der Gemeinschaft wurde verschiedenen (kollektiven) Akteurinnen und Akteuren Interessen zugeschrieben, die staatlicher, aber auch ideeller Natur sein konnten. Gerade bei Letzteren zeigt sich der Anspruch auf moralische Deutungshoheit. (2) Dabei wird der Begriff chiffrenartig verwendet, d. h. der Bezugspunkt des Interesses wird nicht zwingend ausgeführt, sondern als bekannt vorausgesetzt; die Nennung des Akteurs beschreibt ihn implizit. (3) In der Detailanalyse findet der Begriff weniger Verwendung. Vielmehr steckt er den Argumentationsrahmen ab, in dem die Prioritätensetzung der definierten Interessen stattfand. (4) Schließlich geht mit der Interessenzuschreibung eine Wertung einher, wobei nicht die Existenz von Interessen an sich als negativ deklariert wird, sondern deren spezifische Definition durch das Gegenüber. So wurden den Reichsständen und Frankreich vorgeworfen, entgegen der eigenen Interessen zu handeln, wohingegen der Kaiser die Interessen der gesamten Christenheit im Blick habe. Damit wurde sowohl Deutungshoheit über die Interessendefinition beansprucht als auch eine moralisch höherwertige Position eingenommen. Umgekehrt sprachen die Reichsstände vom „frembden interesse“ und nahmen eine ebensolche Wertung vor. Interesse konnte also – intern wie extern – als Marker von Zugehörigkeit und Abgrenzung genutzt werden und war letztlich ein Mittel im Kampf um die Deutungshoheit am Kongress.Im Folgenden werden die verschiedenen Elemente einer Interessenkonstellation systematisch aufgeschlüsselt, um ein Panorama der Verwendungsweisen zu eröffnen. Es ist nach dem Subjekt, also den Akteurinnen und Akteuren (wer ist interessiert?), und dem Bezugspunkt des Interesses (woran ist er/sie interessiert?) ebenso zu fragen wie nach dem Stellenwert, das dem Interesse zugesprochenen wird. Auf diese Weise lässt sich Interesse als relationales Verhältnis erfassen, das Akteurin bzw. Akteur und Bezugspunkt verbindet.1. Vielfalt der Akteurinnen und AkteureUm wessen Interesse handelte es sich bzw. wem wurden Interessen zugeschrieben? Überwiegend ist von überindividuellen, kollektiven Einheiten die Rede: einem HerrschaftsgebildeVgl. z. B. 1647 November 20, APW, Serie III: Protokolle Verhandlungsakten, Diarien, Varia, Abteilung C: Diarien, Bd. 1: Diarium Chigi 1639–1651, Teilbd. 1: Text, bearb. v. Konrad Repgen. Münster 1984 (APW III C 1,1), 373., einer DynastieVgl. z. B. Sitzung des Fürstenrats (sessio publica LII) Osnabrück 1647 September 20/30, APW, Serie III: Protokolle Verhandlungsakten, Diarien, Varia, Abteilung A: Protokolle, Bd. 3: Die Beratungen des Fürstenrates in Osnabrück, Teilbd. 4: 1646–1647, bearb. v. Maria-Elisabeth Brunert. Münster 2006 (APW III A 3, 4), Nr. 144, 350. oder einer politischen Korporation wie den StändenVgl. z. B. Trauttmansdorff an Ferdinand III., Münster 1646 Februar 27, APW, Serie II: Korrespondenzen, Abteilung A: Die kaiserlichen Korrespondenzen, Bd. 3: 1645–1646, bearb. v. Karsten Ruppert. Münster 1985 (APW II A 3), Nr. 180, 327.. Gerade Dynastien als zentrale kollektive Akteure frühneuzeitlicher Außenbeziehungen werden häufig als Subjekte des Interesses genannt.Vgl. z. B. Schilling, Konfessionalisierung (wie Anm. 5), 147–150; Haas, Fürstenehe (wie Anm. 26). Bei Herrschenden handelt es sich sowohl um Einzelpersonen, gleichzeitig stehen sie für das Herrschaftsgebiet und die Dynastie, repräsentieren also überindividuelle Einheiten.Vgl. z. B. Frieden von Münster 1648 (wie Anm. 68), 97, 133. Herrscher bzw. Herrscherin und Territorium sind aber nicht gleichzusetzen, was das Reich und die geschilderte Rollenvielfalt Ferdinands III., die sich nachhaltig auf seine Interessen auswirkte, verdeutlichen.Häufig wurde Interesse zur Gruppenbezeichnung; die Akteurinnen und Akteure wurden über den Bezugspunkt des Interesses beschrieben. So erklärte der Lübecker Gesandte im Städterat während einer Debatte über einen möglichen ständischen Vorbehalt gegen die französische Satisfaktion: „Gleich wie dieses reservatum oder erclärung die interessatos principaliter angehe und sie selbsten, wo sie der schuh drückhe, am besten wißen […].“153. Sitzung des Städterats Osnabrück 1648 August 12 9 Uhr, APW, Serie III: Protokolle Verhandlungsakten, Diarien, Varia, Abteilung A: Protokolle, Bd. 6: Die Beratungen der Städtekurie Osnabrück 1645–1649, bearb. v. Günter Buchstab. Münster 1981 (APW III A 6), Nr. 175, 842.Die Stände spielten als Akteure im Reich eine besondere Rolle, wobei je nach Kontext zwischen katholischen und protestantischen Reichsständen differenziert oder sie als Einheit dargestellt wurden.Vgl. z. B. Plenarkonferenz der katholischen Stände, Münster 1647 März 3, APW, Serie III: Protokolle Verhandlungsakten, Diarien, Varia, Abteilung A: Protokolle, Bd. 4: Die Beratungen der katholischen Stände, Teilbd. 1: 1645–1647, bearb. v. Fritz Wolff unter Mitwirkung von Hildburg Schmidt-von Essen. Münster 1970 (APW III A 4, 1), Nr. 76, 515. Gelegentlich finden sich, wie gezeigt, auch abstrakte Kollektive als Träger von Interessen, wie das Gemeinwesen oder die Christenheit.Vgl. auch APW I 1 (wie Anm. 69), Nr. 5, 104. Christenheit wurde konfessionell aufgeladen oder konfessionsübergreifend als Klammer verwendet. Vgl. Bent Jørgensen, Konfessionelle Selbst- und Fremdbezeichnungen im 16. Jahrhundert. (Colloquia Augustana, Bd. 32.) Berlin 2014, bes. 548. Dabei wurde nicht immer klar präzisiert, wer genau welches Interesse hatte. Vielmehr diente Interesse der Beschreibung von Gruppenzugehörigkeit; es hatte also eine integrative bzw. exkludierende Funktion.Darüber hinaus finden sich Verweise auf Einzelpersonen als Interessenträgerinnen bzw. -träger. Hierbei handelte es sich – neben den Herrschenden – um Minister und einzelne Gesandte. Die Forschung fokussiert meist auf die Perspektive der Herrschenden und Dynastien oder auf die der Diplomaten. Dabei ist es wichtig, beide Ebenen und somit die Pluralität der Akteurinnen und Akteure zu erfassen.2. Bezugspunkte des InteressesDie Differenzierung der Bezugspunkte des Interesses ist so komplex wie die sich u. a. aus der Rollenvielfalt ergebenden, verschränkten Interessen der Akteurinnen und Akteure, wie das Beispiel Ferdinands III. zeigt. Der Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann unterscheidet zwischen individuellen, materiellen und sozialen Interessen und vermischt dabei Subjekt- und Objekt-Ebene.Alemann, Grundlagen (wie Anm. 11), 145 f. Max Weber spricht von materiellen und ideellen Interessen, die weiter in andere Formen des Interesses – etwa ökonomische – differenzierbar sind.Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass. Teilbd. 4: Herrschaft. (Max Weber Gesamtausgabe. Abt. I, Schriften und Reden, Bd. 22.) Tübingen 2005. Zu Webers Interessenbegriff vgl. Lepsius, Interessen (wie Anm. 16). Tatsächlich sind die Übergänge oft fließend. Der Faktor Religion verdeutlicht dies: Als religiös beschriebene Interessen sind nicht nur ideell, sondern beinhalten meist eine machtpolitische, territoriale und/oder finanzielle Ebene. Damit stellt sich die Frage nach dem die eigene Interessendefinition prägenden Norm- und Wertehorizont.Vgl. Gotthard, Krieg (wie Anm. 21), 77. Welche Rolle spielten z. B. Ehre und Reputation, Friedensvorstellungen oder Sicherheitsdenken?Dennoch lassen sich im Kontext der Friedensverhandlungen eine Reihe spezifischer Bezugspunkte des Interesses ausmachen: Es ging um HerrschaftsrechteVgl. z. B. Diarium Leuber, 1647 Mai 31/Juni 10, HStAD, GA (wie Anm. 69), Loc. 8134/1., ErbangelegenheitenVgl. z. B. Diarium Leuber, 1646 Juni 19/29, HStAD, GA (wie Anm. 69), Loc. 8134/1., territorialeVgl. z. B. Trauttmansdorff, Lamberg und Krane an Ferdinand III., Osnabrück 1646 Mai 7, APW II A 4 (wie Anm. 79), Nr. 79, 144. und finanzielleVgl. z. B. Ferdinand III. an Nassau, Lamberg, Krane und Volmar, Wien 1649 Januar 4, APW II A 10 (wie Anm. 79), Nr. 133, S. 480. Ansprüche. Bei Letzteren tritt die ursprüngliche Wortbedeutung von Interesse als Schadensersatz/Zinsen hervor. Gerade hier waren besonders häufig einzelne Gesandte Träger des Interesses; genauso findet sich diese Bedeutung aber auch in den Vertragstexten.Art. IV, 26 IPO, APW III B 1, 2 (wie Anm. 47), 250 f. Interesse wird in der deutschen Fassung mit „Schaeden / Vnkosten und Interesse“ und „jaehrliche Pension” übersetzt.Der Bezugspunkt des Interesses konnte auch abstrakter, also in gewissem Sinne ideell sein. Im Kontext der Friedensverhandlungen stechen Religion bzw. Glaube und Frieden hervor, wobei diese eng mit handfesten materiellen, d. h. territorialen, finanziellen und machtpolitischen Interessen verwoben waren, wie z. B. die Verhandlungen um den Geistlichen Vorbehalt zeigen.Vgl. z. B. APW I 1 (wie Anm. 69), Nr. 17, 235; Übersetzung, ebd. Nr. 17a, 295. Bisweilen wurden diese unter „interesse religionis“Konferenz der Gesandten der katholischen Kurfürsten, Münster 1646 April 21, APW III A 4, 1 (wie Anm. 90), Nr. 42, 203. oder auch konfessionell präzisiert „catholicorum interesse“Plenarkonferenz der katholischen Stände, Münster 1647 März 31, APW III A 4, 1 (wie Anm. 90), Nr. 76, 516. als Sammelbegriff zusammengefasst, mit deren Hilfe eine generelle Position beschrieben wurde, ohne die Details zu schildern. Damit wurde der Anspruch erhoben, dass es um mehr gehe als um territoriale oder machtpolitische Fragen.Das vielfach bekundete Interesse am Frieden – oder der Vorwurf eines Mangels an diesem – ist noch abstrakter. Frieden erscheint als allgemeines, hohes Ziel. Das Interesse am Frieden bildete den kleinsten gemeinsamen Nenner; der Vorwurf, dieses fehle, entzog den Verhandlungen ihre Grundlage. Das dahinter unterschiedliche Friedensbegriffe und konkurrierende Interessen in anderen Bereichen standen, konnte hinter allgemeinen Bekundungen verdeckt werden.Vgl. z. B. „interesset publicae pacis” (Salvius an Servien, Osnabrück 1645 April 3/13, APW, Serie II: Korrespondenzen, Abteilung C: Die schwedischen Korrespondenzen, Bd. 1: 1643–1645, bearb. v. Ernst Manfred Wermter. Münster 1965 [APW II C 1], Nr. 315, 564). Zu den zeitgenössischen Friedenskonzeptionen und ihrer Bedeutung für Friedensverhandlungen vgl. Kampmann, Friede (wie Anm. 61) sowie Irene Dingel/Michael Rohrschneider/Inken Schmidt-Voges/Siegrid Westphal/Joachim Whaley (Hrsg.), Handbuch Frieden im Europa der Frühen Neuzeit. Berlin/Boston 2020.Interesse diente demnach oftmals als Chiffre, hinter der sich Positionen verbargen, die als bekannt vorausgesetzt wurden. Wurden die inhaltlichen Details diskutiert, fand der Begriff, wie in dem kaiserlichen Gutachten, weniger Verwendung. Gleichzeitig zeigen die Debatten um das Interesse am Frieden oder religiöse Interessen bereits, wie sehr Interesse in der Kommunikation als Mittel im Kampf um Deutungshoheiten diente.3. Der Stellenwert des Interesses in EntscheidungsprozessenSchließlich ist zu fragen, wie das Verhältnis zwischen Akteur und Bezugspunkt zu beschreiben ist; es geht um den Stellenwert des Interesses und die ihm zugesprochene Legitimität. Eine solche Bewertung ist in der internen Kommunikation und den Verhandlungen zentral: In ersterer musste geklärt werden, wie wichtig ein Interesse im Verhältnis zu einem anderen Interesse war. Was hatte Priorität, der Friede im Reich oder die Einheit des Hauses Habsburg? Wann waren Kompromisse möglich, wo waren rote Linien? War es ein lang-, mittel- oder kurzfristiges Ziel? Eine solche Interessenanalyse war wichtiger Teil politischer Entscheidungsprozesse.Vgl. u. a. Ulrich Pfister (Hrsg.), Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen. (Kulturen des Entscheidens, Bd. 1.) Göttingen 2019; Philip Hoffmann-Rehnitz/André Krischer/Matthias Pohlig, Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, in: ZHF 45, 2018, 217–281; Ursula Lehmkuhl, Entscheidungsprozesse in der internationalen Geschichte. Möglichkeiten und Grenzen einer kulturwissenschaftlichen Fundierung außenpolitischer Entscheidungsprozesse, in: Loth/Osterhammel (Hrsg.), Internationale Geschichte (wie Anm. 23), 187–207. In den Verhandlungen musste die Bedeutung des eigenen Anliegens herausgestrichen bzw. das des Gegenübers abgewertet werden; es ging um die Legitimität und Deutungshoheit. Sprachlich wurde dies etwa durch ein ergänzendes Adjektiv sichtbar gemacht.Vgl. u. a. APW I 1 (wie Anm. 69), Nr. 17, 235; Korrespondenz Kurbayerns I (wie Anm. 69), 1, 41. Die scheinbare Formelhaftigkeit war Ausdruck des spezifischen Diskurses, in dem die Gesandten agierten und verhandelten.Vgl. zur Formelhaftigkeit von Sprache u. a. Volker Seresse, Zur Praxis der Erforschung politischer Sprachen, in: Angela de Benedictis/Gustavo Corni/Brigitte Mazohl/Luise Schorn-Schütte (Hrsg.), Die Sprache des Politischen in actu. Zum Verhältnis von politischem Handeln und politischer Sprache von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Göttingen 2009, 163–184, bes. 169 f.; Rainer Hülsse, Sprache ist mehr als Argumentation. Zur wirklichkeitskonstituierenden Rolle von Metaphern, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 10, 2003, 211–246.Es blieb aber nicht bei einer rein sprachlich-formalen Kennzeichnung; es fand eine präzise Abwägung statt: Die eigenen wie auch die Interessen Dritter wurden gegeneinandergehalten; die oben geschilderten kaiserlichen Überlegungen zur Einheit der Casa de Austria zeigen dies. Die Gesandten erhielten etwa die Weisung, die Interessen von Bündnispartnern zu unterstützen, solange diese nicht die eigenen behinderten.Vgl. z. B. APW I 1 (wie Anm. 69), Nr. 17, 243, Übersetzung, ebd. Nr. 17a, 302. Der Interessenbegriff ermöglichte es, komplexe Sachverhalte zu bündeln und sie schlagwortartig in der Diskussion aufzugreifen.Ebenso wurde die Legitimität eines Interesses diskutiert. Die des eigenen konnte betont werden, wenn etwa der Vertreter Sachsen-Weimars im Fürstenrat vom „chur- und fürstlichen haußes Sachßen rechtmäßigen interesse“Sitzung des Fürstenrats (sessio publica LII) Osnabrück 1647 September 20/30, APW III A 3, 4 (wie Anm. 85), Nr. 144, 350. Hervorhebung der Verfasserin. sprach. Umgekehrt wurde die Legitimität eines Interesses bestritten. So erklärten die Kaiserlichen mit Blick auf braunschweig-lüneburgische Entschädigungsansprüche:„Wan einem iedwedern nach seiner impression ein interesse zu erdencken und derentwegen recompens zu suchen sölte nachgegeben werden, würde man in infinitum gehen und nimmer zu endt kommen […].“Protokoll, [Osnabrück] 1647 März 1, Beilage A zu: Trauttmansdorff, Lamberg, Krane und Volmar an Ferdinand III., Osnabrück 1647 März 4, APW, Serie II: Korrespondenzen, Abteilung A: Die kaiserlichen Korrespondenzen, Bd. 5: 1646–1647, bearb. v. Antje Oschmann. Münster 1993 (APW II A 5), Nr. 290, 585.Gerade bei territorialen Fragen und Besitzansprüchen ist die enge Verbindung zum ursprünglichen finanziellen Kontext als Schadensersatz oder eben als Rechtsanspruch erkennbar.Vgl. Diarium Leuber, 1649 April 5/15, HStAD, GA (wie Anm. 69), Loc. 8134/3. Ein (legitimes) Interesse zu haben, bedeutete, einen Rechtsanspruch zu besitzen.Dem Gegenüber wurde häufig unterstellt, nicht im eigenen, sondern im Interesse Dritter zu handeln, wovor Rohan explizit warnte. Die Kaiserlichen warfen den protestantischen Ständen wiederholt vor, die Interessen der Kronen zu verfolgen.Vgl. Trauttmansdorff an Ferdinand III., Osnabrück 1646 April 16, APW II A 3 (wie Anm. 86), Nr. 273, 513. Es war eben nicht das Haben eines Interesses an sich, das kritisiert wurde, es war die jeweilige Ausdeutung. Interesse erschien objektiv und diente dazu, das eigene Handeln, das der Verbündeten und der Gegner zu beschreiben und in der eigenen Wahrnehmung kalkulierbar zu machen. Mehr noch, mit ihm ließen sich Wertungen – das richtige oder falsche Interesse – und Inklusion und Exklusion – das eigene gegenüber dem gegnerischen Interesse – kommunizieren. Dem lag keine grundlegende Ablehnung des Konzepts zugrunde.Obwohl der theoretische Diskurs eine prinzipiell negative Bewertung von als partikular, individuell oder privat beschriebenen Interessen nahelegtVgl. z. B. Mazarin an Servien 19 Paris 1646 Dezember 21, APW, Serie II: Korrespondenzen, Abteilung B: Die französischen Korrespondenzen, Bd. 5: 1646–1647. Teilbd. 1: 1646–1647, bearb. v. Guido Braun unter Benutzung der Vorarbeiten von Kriemhild Goronzy, Achim Tröster, unter Mithilfe von Antje Oschmann am Register. Münster 2002 (APW II B 5, 1), Nr. 33, 170., zeichnet die diplomatische Praxis ein pragmatischeres Bild: Gerade in den Beratungen der Stände wurde wertfrei von dem eigenen oder dem Partikularinteresse Dritter gesprochen.Vgl. z. B. Plenarkonferenz der katholischen Stände Osnabrück 1647 Februar 11, APW III A 4, 1 (wie Anm. 90), Nr. 73, 498. Auch das Interesse von Einzelpersonen wurde nicht per se abgewertet.Vgl. z. B. Trauttmansdorff an Kurz, Münster 1646 August 17, APW II A 4 (wie Anm. 79), Nr. 307, 519. Zwar hatten die Interessen der Gesandten hinter den offiziell zu vertretenden Interessen zurückzustehen; wenn sie aber nicht, so die schwedische Instruktion, in Konflikt mit den Interessen Königin Christinas gerieten, konnten sie diese durchaus verfolgen.Vgl. APW I 1 (wie Anm. 69), Nr. 17, 243, Übersetzung, ebd. Nr. 17a, 302.Problematisch wurde es, wenn die Einzelinteressen konträr zu den Interessen der Gemeinschaft standen, wie es der theoretische Diskurs prophezeite. So erklärten die kaiserlichen Gesandten einer Deputation der katholischen Stände: „Daß man friedt machen und einem ieden in seinem particularinteresse satisfaction geben solle, were unmöglich zu erhalten.“Deputation der katholischen Stände bei den kaiserlichen Gesandten, Münster 1646 Dezember 20, APW III A 4, 1 (wie Anm. 90), Nr. 72, 494. Einzelinteressen bekamen eine geringere Priorität beigemessen, wurden aber nicht grundsätzlich abgelehnt. Wer mit seinem Insistieren den Frieden angeblich behinderte, dem wurde dies entsprechend angelastet.Bereits dem sächsischen Kurfürsten war Verrat an den protestantischen Interessen zugunsten von Eigeninteressen vorgeworfen worden, nachdem er ein Bündnis mit dem Kaiser eingegangen war. Vgl. Ralf-Peter Fuchs, Über Ehre kommunizieren – Ehre erzeugen. Friedenspolitik und das Problem der Vertrauensbildung im Dreißigjährigen Krieg, in: Martin Espenhorst (Hrsg.), Frieden durch Sprache? Studien zum kommunikativen Umgang mit Konflikten und Konfliktlösungen. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung Universalgeschichte, Beih. 91.) Göttingen 2012, 61–80, 69 f.Gleiches galt, wenn ein Individuum seine Interessen über das Gesamtinteresse stellte, wie es die Kaiserlichen Mazarin und dem französischen König vorwarfen:„Wie geringer lust bey denen cronen zum friden erscheint, bezeugen unßere heutige allergehorsamste relationes. Sie richten ihre consilia nach den waffen unndt des in Frankhreich individuel interesse.“Trauttmansdorff an Ferdinand III., Münster 1646 September 11, APW II A 4 (wie Anm. 79), Nr. 339, 579.Dies deckt sich mit Rohan, der vor Irreführungen durch leitende Minister warnte.Vgl. Rohan, De l’interest (wie Anm. 40), 69–78; ders., Interesse (wie Anm. 40), 126–143. Vgl. Paul, Counsel (wie Anm. 46), bes. 151–160. Dass Einzelinteressen, gerade von führenden Ministern, durchaus taktische Vorteile bieten konnten, zeigen die kaiserlichen Überlegungen zu einer Standeserhebung des schwedischen Reichskanzlers Axel Oxenstierna, Vater des Gesandten Johan Oxenstierna: „Waß sein khan, daß rathe ich, thuen Euer Kaiserliche Majestät, dan an diesem interesse des Oxenstirn ligt gar alleß.“Trauttmansdorff an Ferdinand III., Münster 1646 Juni 26, APW II A 4 (wie Anm. 79), Nr. 221, 373. Das Erkennen und Nutzen der Interessen Dritter gehörte zur zeitgenössischen Verhandlungskunst. Vgl. Jean-Claude Waquet, Verhandeln in der Frühen Neuzeit: Vom Orator zum Diplomaten, in: Thiessen/Windler (Hrsg.). Akteure der Außenbeziehungen (wie Anm. 3), 113–131, bes. 118.In der diplomatischen Praxis dominierte eine pragmatische Sicht: Interessen an sich waren weder negativ noch positiv. Sie dienten der Handlungsanalyse, in deren Rahmen eine Wertung der je spezifischen Interessen vorgenommen werden konnte. Es gab keine Interessenfelder, die per se als legitim oder illegitim eingestuft wurden. Hier waren die Prioritätensetzung und die Perspektive ausschlaggebend. Was der eine als Verrat an den Interessen des Gemeinwohls betrachtete, wertete der andere genau als deren Beförderung. Eine negative Abwertung von Interessen diente oft der Legitimierung der eigenen Position. Interesse wurde somit zur Argumentationsfigur im Kampf um die Deutungshoheit.4. Interessenanalyse als diplomatische AufgabeDie Zeitgenossen waren sich der Interessenvielfalt und des damit einhergehenden Konfliktpotentials bewusst, wie Contarinis eingangs zitierte Reflexion verdeutlicht.Vgl. Anm. 1. Tatsächlich waren es die Gesandten, die den Interessenausgleich – nach außen wie nach innen – erreichen mussten. Sie waren auch in der eigenen Wahrnehmung per definitionem Interessenvertreter.Vgl. z. B. Diarium Volmar 1648 Januar 24, APW, Serie III, Protokolle, Verhandlungsakten, Diarien, Varia, Abt. C: Diarien, Bd. 2: Diarium Volmar Teilb. 2, bearb. v. Roswitha Philippe, Joachim Foerster. Münster 1984 (APW III C 2, 2), 958. Gerade die Vertreter der Hauptmächte und der Kurfürsten hatten zudem für die Interessen Dritter, kleinerer Mächte, einzutreten. Der kaiserliche Prinzipalgesandte Maximilian von Trauttmansdorff musste z. B. die Vielfalt der Interessen Ferdinands III. und dessen Verbündeter in Einklang bringen, was zu Konflikten mit den Partnern Kurbayern und Spanien führte. In einem Brief an den Kaiser wehrte er sich gegen bayerische Kritik an seiner Person: „Euer Kaiserliche Majestät undt dero hauß interesse hete ich also sollen zuruckhlassen, aber ihrer churfürstlichen durchlaucht anligen pro conditione sine qua non halten. Seindt guete zumutungen vor mich.“Trauttmansdorff an Ferdinand III., Münster 1646 März 23, APW II A 3 (wie Anm. 86), Nr. 225, 438. Interessenabwägung diente in diesem Fall der Legitimation des einzelnen Gesandten.Entsprechend ihrer Rolle als Interessenvertreter gehörte die Interessenanalyse zu den zentralen Aufgaben der Gesandten. Einschlägige Betrachtungen finden sich in den Relationen: Welche Interessen hatten der Gegner bzw. die Verbündeten? Wie verhielten sich diese zu den eigenen Interessen?Vgl. z. B. Servien an Lionne, Münster 1645 März 25, APW, Serie II: Korrespondenzen, Abteilung B: Die französischen Korrespondenzen, Bd. 2: 1645, bearb. v. Franz Bosbach unter Benutzung der Vorarbeiten von Kriemhild Goronzy und unter Mithilfe von Rita Bohlen. Münster 1986 (APW II B 2), Nr. 64, 207. Instruktionen und interne Gutachten lieferten Analysen oft in verdichteter Form, wie das kaiserliche Beispiel gezeigt hat. Sie bildeten – augenscheinlich auf Basis einer Aufschlüsselung der Interessen – die Leitlinie für die Regierung bzw. die Gesandten vor Ort.Die zeitgenössische Verwendung des Interessenbegriffs zeigt einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Während der theoretische Diskurs sich aus verschiedenen Strängen – politischer Theorie, Naturrecht, Moraltheologie sowie Ökonomie – zusammensetzte, die relativ autonom nebeneinander herliefen, war seine Verwendung in der diplomatischen Praxis umfassender. Auch hier liegt, den theoretischen Diskurs spiegelnd, der Schwerpunkt auf Interesse im Sinne von Staatsräson, gleichzeitig finden aber auch moraltheologische Überlegungen zum interessengeleiteten Wesen des Einzelnen ebenso Eingang, wie der ursprünglich ökonomische Kontext sichtbar bleibt.IV.Perspektiven: Interesse als analytisches KonzeptDie zeitgenössische Verwendung des Interessenbegriffs im diplomatischen Kontext zeigt, dass Interesse (1) der Beschreibung menschlichen Verhaltens und (2) der Verortung der eigenen Position sowie der von Dritten zueinander diente. Als Element politischer Sprache erfüllte Interesse eine integrative bzw. exkludierende Funktion, das heißt es wurde genutzt, um zu werten, war aber nicht per se wertend.Diese Aspekte aufgreifend nutzt ein kulturgeschichtlich-fundiertes Interessenkonzept den beschreibenden Charakter des Begriffs, mit Hilfe dessen sich relationale Verhältnisse zwischen Akteurinnen bzw. Akteuren und Bezugspunkt erfassen lassen.Vgl. Pradetto, Interesse (wie Anm. 12), 34; Neuendorff, Begriff (wie Anm. 18), 17. Dieses Verhältnis wird in seiner Beschaffenheit geprägt durch den jeweiligen Normen- und Wertehorizont, der sich u. a. in der spezifischen Rollenvielfalt der Akteurinnen und Akteure manifestiert. Aus unterschiedlichen Rollen ergeben sich unterschiedliche Interessen. Die Einbindung des Rollenkonzepts ermöglicht es erstens, Interesse als normbasiert zu beschreiben, und zweitens, potenzielle interne Interessenkonflikte als strukturell bedingt zu erfassen. Zur weiteren Charakterisierung des Interesses und seines Stellenwertes ist der Faktor Zeit zu berücksichtigen, das heißt, welche Dringlichkeit hat das Interesse? Ist es kurz- oder langfristiger Natur? Im Mittelpunkt steht dabei das Verhältnis zwischen Akteur und Bezugspunkt, nicht Akteur und Bezugspunkt an sich.Ausgangspunkt einer solchen Analyse kann die zeitgenössische Eigendefinition des Interesses sein. Im vorliegenden Fall eignen sich die diplomatischen Instruktionen für eine solche erste Untersuchung, da die Akteurinnen und Akteure hier ausdifferenzieren, worin sie ihre Interessen sehen und wie sie diese erreichen wollen. Dabei wird nicht immer der Begriff selbst verwendet, aber es wird ein relationales Verhältnis beschrieben zwischen Akteurin bzw. Akteur und begehrtem Bezugspunkt. Dies bildet die Grundlage für die weitere Analyse, die über die Selbstdefinition der Interessenlagen der Akteurinnen und Akteure hinausgeht. Wer will was wie und mit welcher Priorität? Besonders klar treten Interessen in Konfliktfällen hervor, wenn die Akteurinnen und Akteure das Bezugsobjekt nicht haben können, darum konkurrieren müssen oder die eigenen Interessen in Widerspruch zueinanderstehen.Dabei ist der kommunikative Kontext zu beachten: Gegenüber wem wird welches Interesse wie artikuliert? Wie wird die eigene Interessenformulierung als strategisches Mittel in Verhandlungen eingesetzt? Inwieweit kann das Spiel mit den Rollen bei der Durchsetzung der Interessen helfen? Ebenso ist nach den Grundlagen der Interessenbildung zu fragen. Interesse ist keine feste Kategorie, sondern unterliegt gesellschaftlichen Normen und Werten und damit dem Wandel. Was definiert eine Gesellschaft als erstrebenswert? Im Kontext der Außenbeziehungen des 17. Jahrhunderts spielen Religion, Dynastie, Tradition, Reputation und Ehre eine zentrale Rolle, aber auch Sicherheitsdenken oder ökonomische Faktoren. Eine Analyse der internen Interessengewichtungen innerhalb von Entscheidungsfindungsprozessen kann somit auch Auskunft über die Gewichtung verschiedener Normen und Werten und Rollendynamiken geben.Ein solches Verständnis von Interesse ermöglicht es erstens, Mikro- und Makroebene frühneuzeitlicher Außenbeziehung zu verklammern, da es sich weder auf die Untersuchung von Staatsinteressen noch auf Interessen von Individuen beschränkt. Vielmehr lassen sich diese im Wechselspiel zueinander untersuchen. Zweitens ist es nicht auf den hier im Fokus stehenden Bereich der Außenbeziehungen beschränkt. Ebenso können, wie bereits die Zeitgenossen erkannten, innenpolitische oder verfassungsrechtliche Konstellationen untersucht werden. Hierzu wäre zunächst eine Betrachtung der jeweiligen zeitgenössischen Diskurse vonnöten.Der Gebrauch von Interesse in der diplomatischen Praxis des 17. Jahrhunderts und in den modernen Wissenschaften weisen Ähnlichkeiten auf. In beiden Fällen ist „[the] concept of interest a way of talking and thinking about the way that people have come to pursue fundamental goals and values”.Swedberg, Interest (wie Anm. 8), 104. Es geht um die „Eigenpositionierung in der Umwelt, der Gestaltung der Beziehungen zur Umwelt“.Pradetto, Interessen (wie Anm. 12), 38. Thomas Nicklas forderte, den zeitgenössischen Interessenbegriff als Inspiration für die Analyse von Machtverhältnissen zu verwenden. Allerdings ging er von einem klassischen Interessenbegriff aus, der Interesse als rationale und objektive Kategorie beschreibtVgl. Nicklas, Politik (wie Anm. 24), 194., was aber das analytische Potenzial, das dem Begriff innewohnt, verschenkt. Vielmehr ist Interesse im dargelegten Sinne als eine beschreibende, relationale Kategorie zu verstehen, die helfen kann Akteurs-Bezugsobjekt-Konstellationen zu analysieren – im 17. wie im 21. Jahrhundert.Zusammenfassung Seit dem 17. Jahrhundert gilt Interesse als „Schlüsselkategorie“ der politischen Sprache (Herfried Münkler). Auch heute ist der Begriff in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen präsent: in den Internationalen Beziehungen, den Politikwissenschaften, der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften, der Anthropologie oder den Geschichtswissenschaften. Häufig erscheint Interesse dabei als wertneutrale, feststehende und vielfältig einsetzbare Kategorie. Dabei beschreibt es zunächst ein relationales Verhältnis zwischen Akteur und Bezugsobjekt. Was als Interesse definiert wird, unterliegt gesellschaftlichen Normen und Werten und damit dem Wandel.Dieser Beitrag untersucht diesen prominenten, aber oft unscharf bleibenden Terminus, indem er zunächst einen Überblick über seinen Stellenwert in verschiedenen modernen Wissenschaftsdisziplinen gibt, um dann den frühneuzeitlichen Gebrauch im politiktheoretischen Diskurs und in der diplomatischen Praxis zu betrachten. Als Fallstudie dient die diplomatische Kommunikation auf dem Westfälischen Friedenskongress.Die zeitgenössische Verwendung des Begriffs im diplomatischen Kontext zeigt, dass Interesse (1) der Beschreibung menschlichen Verhaltens und (2) der Verortung der eigenen Position sowie der von Dritten zueinander diente. Als Element politischer Sprache erfüllte Interesse eine integrative bzw. exkludierende Funktion. In diesem Sinne kann ein kulturgeschichtlich-fundierter Ansatz den beschreibenden Charakter des Begriffs aufgreifen. Interesse ist somit eine beschreibende, relationale Kategorie, die helfen kann, Akteurs-Bezugsobjekt-Konstellationen zu analysieren – im 17. wie im 21. Jahrhundert.WidmungDer Aufsatz präsentiert erste Ergebnisse meines vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Österreich mit einem Elise-Richter-Stipendium geförderten Habilitationsprojektes „Im Geflecht der Interessen. Kaiserliche und reichsständische Gesandte auf dem Westfälischen Friedenskongress (1643–1649)“ (FWF V 748-G), https://www.oeaw.ac.at/ihb/forschungsbereiche/geschichte-der-habsburgermonarchie/forschung/westfaelischer-friedenskongress (29.11.2021). http://www.deepdyve.com/assets/images/DeepDyve-Logo-lg.png Historische Zeitschrift de Gruyter

Interesse als Kategorie zur Erforschung frühneuzeitlicher Außenbeziehungen. Überlegungen am Beispiel der Westfälischen Friedensverhandlungen

Historische Zeitschrift , Volume 314 (3): 30 – Jun 1, 2022

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© 2022 Walter de Gruyter, Berlin/Boston
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2196-680X
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10.1515/hzhz-2022-0013
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Abstract

„Man kann es geradezu als ein Weltwunder bezeichnen, daß derartig auseinanderstrebende Interessen sich in dem gemeinsamen Willen getroffen haben, ihre eigenen Dinge zusammen mit den Angelegenheiten der gesamten Christenheit an einem einzigen Ort auszuhandeln.“Übersetzung nach: Konrad Repgen, Friedensvermittlung und Friedensvermittler beim Westfälischen Frieden, in: Westfälische Zeitschrift 147, 1997, 37. Die Relationen der Botschafter Venedigs über Deutschland und Österreich im siebzehnten Jahrhundert, 1. Bd.: K. Mathias bis K. Ferdinand III., hrsg. v. Joseph Fiedler (Fontes Rerum Austriacarum, 2. Abteilung: Diplomatica, Bd. 26.) Wien 1866, 293: „Si può chiamare una delle merauiglie del mondo, che in un sol lougo habbino, tanti diversamente interessati di commum parere acconsentito, che si trattino li propij con gl’affari di tutta Christianità.“ So schilderte der venezianische Vermittler auf dem Westfälischen Friedenskongress Alvise Contarini rückblickend die Aufgabe, die er und seine Kollegen während der Friedensverhandlungen zu bewältigen hatten. Dies ähnelt der modernen Definition von Verhandeln laut einem Klassiker der Verhandlungsführung, die Verhandeln als „back-and-forth communication designed to reach an agreement when you and the other side have some interests that are shared and others that are opposed“Roger Fisher/William Ury/Bruce Patton, Getting to Yes. Negotiating Agreement without Giving in. 2nd Ed. Boston 1991, XVII. versteht. Eine Einigung – hierzu zählt auch ein Friedensschluss – bedeutet, widerstreitende Interessen auszugleichen.Interesse erscheint als wertneutrale, feststehende und vielfältig einsetzbare Kategorie. Der Begriff ist omnipräsent in den Internationalen Beziehungen, dient aber auch der Definition und Abgrenzung gesellschaftlicher Gruppen. In den Politikwissenschaften, der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften, der Anthropologie und den Geschichtswissenschaften gehört der Ausdruck zum Standardvokabular; dies zeigt auch das aktuell so lebendige Feld frühneuzeitlicher Außenbeziehungen sowie der Diplomatiegeschichte.Zur Neuen Diplomatiegeschichte überblicksartig z. B.: Tracey A. Sowerby, Early Modern Diplomatic History, in: History Compass 14, 2016, 441–456. Mit Fokus auf den Westfälischen Friedenskongress: Dorothée Goetze/Lena Oetzel, Der Westfälische Friedenskongress zwischen (Neuer) Diplomatiegeschichte und Historischer Friedensforschung, in: H-Soz-Kult 20.12.2019, 1–77, <www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-4137>. Grundlegend u. a.: Hillard von Thiessen/Christian Windler (Hrsg.), Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. (Externa, Bd. 1.) Köln/Weimar/Wien 2010; Peter Burschel/Birthe Kundrus (Hrsg.), Thema: Diplomatiegeschichte. (HA, Bd. 21/2.) Köln/Weimar/Wien 2013. Seit dem 17. Jahrhundert gilt Interesse als „Schlüsselkonzept der politischen Sprache“.Nadir Weber, Lokale Interessen und große Strategie. Das Fürstentum Neuchâtel und die politischen Beziehungen der Könige von Preußen (1707–1806). (Externa, Bd. 7.) Köln/Weimar/Wien 2015, 63. Ähnlich: Albert Otto Hirschman, The Concept of Interest. From Euphemism to Tautology, in: Ders., Rival Views of Market Society and Other Recent Essays. New York 1986, 35–55, 45; Herfried Münkler, Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1987, 270. In diesem Sinne betitelte Heinz Schilling seinen Band im „Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen“ mit „Konfessionalisierung und Staatsinteressen“Heinz Schilling, Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559–1660. (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, Bd. 2.) Paderborn 2007, 147–159.: Neben Dynastie, Religion/Konfession und Tradition entwickele sich das „Staatsinteresse“ zur Leitkategorie frühneuzeitlicher Außenbeziehungen. In der Neuen Diplomatiegeschichte wird aus akteurszentrierter Perspektive von den Interessen der Akteurinnen und Akteure gesprochen; Interesse sei ein „Kernbegriff der Patron-Klient-Rhetorik“Anuschka Tischer, Diplomaten als Patrone und Klienten. Der Einfluss personaler Verflechtungen in der französischen Diplomatie auf dem Westfälischen Friedenskongress, in: Rainer Babel (Hrsg.), Le diplomate au travail. Entscheidungsprozesse, Information und Kommunikation im Umkreis des Westfälischen Friedenskongresses. (Pariser Historische Studien, Bd. 65.) München 2005, 173–197, 176. Ähnlich u. a.: Dorothea Nolde, Was ist Diplomatie und wenn ja, wie viele? Herausforderungen und Perspektiven einer Geschlechtergeschichte der frühneuzeitlichen Diplomatie, in: Burschel/Kundrus (Hrsg.), Diplomatiegeschichte (wie Anm. 3), 179–198, 187; Birgit Emich, Die Formalisierung des Informellen: Ein Beitrag zur Verwaltungsgeschichte der Frühen Neuzeit, in: Peter Eich/Sebastian Schmidt-Hofner/Christian Wieland (Hrsg.), Der wiederkehrende Leviathan. Staatlichkeit und Staatswerdung in Spätantike und Früher Neuzeit. (Akademikerkonferenzen, Bd. 4.) Heidelberg 2009, 81–95, 92.. Auch im Bereich der frühneuzeitlichen Wissensgeschichte werden der Begriff, sein ökonomischer Ursprung und dessen Implikationen zunehmend diskutiert.Dies gilt besonders im späten 17. und 18. Jahrhundert und findet hier deshalb nur am Rande Beachtung: Vgl. Julia A. Schmidt-Funke, Konkurrenz – ein Analysebegriff für die Wissensgeschichte der Frühen Neuzeit? In: Franziska Neumann/Jorun Pöttering/Hillard von Thiessen (Hrsg.), Konkurrenzen (Frühneuzeit-Impulse, Bd. 4.) Köln/Weimar/Wien 2022 [in Vorbereitung]; Marian Füssel, Die symbolischen Grenzen der Gelehrtenrepublik. Gelehrter Habitus und moralische Ökonomie des Wissens im 18. Jahrhundert, in: Martin Mulsow/Frank Rexroth (Hrsg.), Was als wissenschaftlich gelten darf. Praktiken der Grenzziehung in Gelehrtenmilieus der Vormoderne. Frankfurt am Main 2014, 413–437, 415; Harold John Cook, Matters of Exchange. Commerce, Medicine, and Science in the Dutch Golden Age. New Haven, CT 2007, 45 f.; Jacob Sider Jost, Interest and Connection in the Eighteenth Century. Hervey, Johnson, Smith, Equiano, Charlottesville, VA/London 2020. Gleichzeitig wird weithin das Fehlen einer klaren und anwendbaren Definition beklagt; der Begriff wird gar als mythisch diskreditiert.Vgl. Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: GG 28, 2002, 574–606. Grundlegend: Richard Swedberg, Interest. Maidenhead 2005, 6. Tatsächlich wird selten tiefergehend reflektiert, was mit Interesse gemeint ist.Die folgenden Ausführungen wollen sich diesem prominenten, aber oft unscharfen Terminus nähern, indem sie zunächst einen Überblick über seinen Stellenwert in verschiedenen modernen Wissenschaftsdisziplinen geben, um dann den frühneuzeitlichen Gebrauch im politiktheoretischen Diskurs und in der diplomatischen Praxis zu betrachten. Als Fallstudie dient die diplomatische Kommunikation auf dem Westfälischen Friedenskongress. Diese eignet sich insofern, als halb Europa zu den Verhandlungen in Münster und Osnabrück versammelt war, also ein breites europäisches Panorama der Verwendung des Interessenbegriffs in der diplomatischen Praxis gezeichnet werden kann. Die Studie liefert einen Überblick über die Gebrauchsformen und prüft, inwieweit diese dem zeitgenössischen theoretischen Diskurs entsprachen. Hierauf aufbauend lässt sich schließlich der Begriff als modernes kulturgeschichtlich fundiertes Analysekonzept adaptieren.I.Der Interessenbegriff in der modernen ForschungDer Interessenbegriff ist, ausgehend von der schottischen Aufklärung (David Hume, Adam Smith) und später dem Utilitarismus (Jeremy Bentham, John Stuart Mill)Vgl. Swedberg, Interest (wie Anm. 8), 14–23., stark von einer wirtschaftswissenschaftlichen Sicht und dem Konzept eines ökonomisch, rational geprägten Eigeninteresses als Leitkategorie menschlichen Handelns geprägt. Hierauf fußt die Theorie des homo oeconomicusZur Bedeutung des Interessenbegriffs in den Wirtschaftswissenschaften vgl. ebd. 28–33., die weiterentwickelt die Grundlage für rational choice, agency und Spieltheorien bildet, die ebenfalls auf eine Kosten-Nutzen-Kalkulation abzielen. Diese wirtschaftswissenschaftliche Dominanz führt tendenziell zu einer Verengung des Konzepts. Daher bemühen sich gerade Soziologie und Politikwissenschaften, den Begriff zu weiten, so dass er menschliche Verhaltensweisen in allen Lebensbereichen erfassen kann.In den Politikwissenschaften spielt der Begriff im Bereich der politischen Systeme sowie in den Internationalen Beziehungen eine wichtige Rolle. Erstere fokussieren auf gesellschaftliche Interessengruppen und deren Zusammenwirken mit anderen sozialen und politischen Institutionen. Das Interessenkonzept ermöglicht es, Individuum und Gesellschaft in Relation zueinander zu setzen.Vgl. Ulrich von Alemann, Grundlagen der Politikwissenschaft. Ein Wegweiser. (Grundwissen Politik, Bd. 9.) Opladen 1994, bes. 145 f.; Peter Massing/Peter Reichel (Hrsg.), Interesse und Gesellschaft. Definitionen, Kontroversen, Perspektiven. München 1977; Sider Jost, Interest (wie Anm. 7), 5. Grundlegend für die Internationalen Beziehungen ist die Annahme, dass internationale Beziehungen von potenziellen Interessenkonflikten zwischen staatlichen bzw. nichtstaatlichen Akteuren geprägt sind, wobei der Begriff durchaus kontrovers ist.Vgl. August Pradetto, Interessen und „nationale Interessen“ in der Außen- und internationalen Politik. Definition und Reichweite des Begriffs, in: Olaf Theiler/Ulrich Albrecht (Hrsg.), Deutsche Interessen in der sicherheitspolitischen Kommunikation. (Schriften der Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation, Bd. 24.) Baden-Baden 2001, 33–68, 33; Alexander Siedschlag, Definition und Reichweite des Interessenbegriffs in den internationalen Beziehungen. Unter besonderer Berücksichtigung innenpolitischer Aspekte der Interessendefinition in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, in: ebd., 17–32; Ortwin Buchbender, Der Interessenbegriff in der sicherheitspolitischen Diskussion, in: ebd., 10–15, 10. Gerade in der Bundesrepublik Deutschland wurde der Terminus lange mit der negativen Dominanz nationaler Interessen der jüngeren deutschen Geschichte assoziiert. Immer wieder ist schlagwortartig die Rede von „nationalen“ oder „geostrategischen“ Interessen.Vgl. Ulrich Albrecht, Interessen in der internationalen Außen- und Sicherheitspolitik, in: Theiler/Albrecht (Hrsg.), Deutsche Interessen (wie Anm. 12), 112–120, 112. Der Interessenbegriff findet sich in vielen Einführungen zu den Internationalen Beziehungen meist ohne Definition, z. B. Christian Tuschhoff, Internationale Beziehungen. Konstanz 2015, 282 definiert den Begriff im Glossar. Garrett W. Brown/Iain McLean/Alistair McMillian (Eds.), The Concise Oxford Dictionary of Politics and International Relations. 4th Ed. Oxford 2018, haben Einträge zu „national interest“, „interest groups“, „public interest“ und „interests, individual“. Ältere Forschungen, gerade der Realismus, betrachteten Interesse als objektive Kategorie, an der Staaten ihr Handeln ausrichten sollten. Die heutige Forschung versteht Interessen dagegen als von Regierungen definiert und geprägt von kulturellen und gesellschaftlichen Normen und Werten.Vgl. Siedschlag, Definition (wie Anm. 12), 17; Klaus Roscher, Ideen, Weltbilder, Normen und Handlungsrepertoires. Die kulturelle Wende in den Internationalen Beziehungen, in: Birgit Schwelling (Hrsg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen. Wiesbaden 2004, 231–252. Kulturwissenschaftlich, psychologisch oder soziologisch inspirierte Ansätze, wie Forschungen zu foreign policy decision-making, nehmen neben Staaten zunehmend individuelle Akteurinnen und Akteure als Trägerinnen und Träger von Interessen in den Blick bzw. hinterfragen die Genese der Interessendefinition.Vgl. James Goldgeier/Philip Tetlock, Psychological Approaches, in: Christian Reus-Smit/Duncan Snidal (Eds.), The Oxford Handbook of International Relations. (The Oxford Handbooks of Political Science.) Oxford 2010, 462–480; Friedrich Kratochwil, Sociological Approaches, in: ebd., 444–461; Douglas T. Stuart, Decision-Making, in: ebd., 576–593.Dies deckt sich mit soziologischen Ansätzen, die auf Einzelakteurinnen und -akteure und die Frage, wie Interessen ihre Handlungen beeinflussen, fokussieren. Anders als im Modell des homo oecomonicus erscheint Interesse nicht begrenzt auf ein rationales, ökonomisches Eigeninteresse, „but as part of a world that is deeply irrational and emotional“.Swedberg, Interest (wie Anm. 8), 33. Auch: M. Rainer Lepsius, Interessen, Ideen und Institutionen. Wiesbaden 1990, 7. Dabei wird dem Interesse als handlungsleitendem Faktor ein unterschiedlich großer Stellenwert beigemessen: von bedeutungslos bis hin zur alles bestimmenden Kraft menschlichen Handelns.Vgl. überblicksartig Swedberg, Interest (wie Anm. 8), 34–77. Z. B.: Ulrich Willems, Moralskepsis, Interessenreduktionismus und Strategien der Förderung von Demokratie und Gemeinwohl. Eine kritische Sichtung politiktheoretischer Reflexionen über Interesse und Moral als Orientierung politischen Handelns, in: Ders. (Hrsg.), Interesse und Moral als Orientierungen politischen Handelns. (Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, Bd. 4.) Baden-Baden 2003, 9–98. Auffallend ist in der modernen Soziologie – wie auch in anderen Disziplinen –, dass Interesse zwar zum Standardvokabular gehört, aber nicht den Stellenwert eines eigenen Konzepts hat wie noch in der klassischen Soziologie. Richard Swedberg spricht von einem „‚proto-concept‘ or a term that is used without awareness and conceptual precision“.Swedberg, Interest (wie Anm. 8), 48. Bereits Hartmut Neuendorff, Der Begriff des Interesses. Eine Studie zu den Gesellschaftstheorien von Hobbes, Smith und Marx. Frankfurt am Main 1973, 21. Entsprechend verwundert nicht das Fehlen eines Eintrags in soziologischen Handbüchern, vgl. etwa Johannes Kopp/Anja Steinbach (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie. 11. Aufl. Wiesbaden 2016; Sina Farzin/Stefan Jordan (Hrsg.), Lexikon Soziologie und Sozialtheorie. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart 2015.Trotz dieses Mangels an klaren Definitionen kristallisieren sich einige Grundeigenschaften des Interessenkonzepts heraus. Der Politikwissenschaftler August Pradetto definiert Interesse als „eine Konstellation zwischen einem individuellen oder kollektiven Akteur und einem von ihm wertgeschätzten materiellen oder ideellen Objekt”.Pradetto, Interesse (wie Anm. 12), 34. Ähnlich: Neuendorff, Begriff (wie Anm. 18), 17. Im Folgenden wird deshalb von den Akteurinnen und Akteuren bzw. den Subjekten des Interesses und dem Bezugsobjekt bzw. -punkt des Interesses gesprochen. Im Fokus steht das Interesse als verbindendes Element. Es handelt sich um ein relationales Konzept, mit dessen Hilfe Beziehungen zwischen (kollektiven und individuellen) Akteurinnen bzw. Akteuren und Gesellschaft erkennbar und sagbar werden.Vgl. u. a. Swedberg, Interest (wie Anm. 8), 7; Pradetto, Interessen (wie Anm. 12), 34; Sider Jost, Interest (wie Anm. 7), 5. Interessen sind dabei in ihrer Genese „ideenbezogen”Lepsius, Interessen (wie Anm. 16), 7. Auch: Ursula Lehmkuhl, Diplomatiegeschichte als internationale Kulturgeschichte: Theoretische Ansätze und empirische Forschung zwischen Historischer Kulturwissenschaft und Soziologischem Institutionalismus, in: GG 27, 2001, 394–423, 407 f.; Axel Gotthard, Krieg und Frieden in der Vormoderne, in: Hans-Christof Kraus/Thomas Nicklas (Hrsg.), Geschichte der Politik. Alte und Neue Wege. (HZ, Beih. 44.) München 2007, 67–94, 77., das heißt, sie sind in ihrer spezifischen Ausprägung abhängig vom historischen Kontext, von Normen und Werten der Akteurinnen und Akteure. Sie stehen nicht alleine, sondern immer in Verbindung mit moralischen Diskursen.Vgl. Martin Papenheim, From “Interest” to the “Political”. Speaking of Ruling and Reigning in Early Modern Europe, in: Willibald Steinmetz/Ingrid Gilcher-Holtey/Heinz-Gerhard Haupt (Eds.), Writing Political History Today. (History of Political Communication, Vol. 21.) Frankfurt am Main/New York 2013, 45–55, 54 f.Auch in der Geschichtswissenschaft ist der Terminus zwar präsent, wird aber häufig unreflektiert verwendet. Deutlich zeigt sich der Einfluss der klassischen Sicht der Internationalen Beziehungen, die nach nationalen oder staatlichen Interessen fragt. Genau dies wurde im Zuge des cultural turn kritisiert. Interesse galt als Konzept einer veralteten Diplomatiegeschichte, in der ‚große Männer‘ scheinbar objektive ‚staatliche Interessen‘ vertraten.Vgl. zu dieser Kritik: Wilfried Loth, Einleitung, in: Ders./Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Internationale Geschichte. Themen, Ergebnisse, Aussichten. (Studien zur Internationalen Geschichte, Bd. 10.) München 2000, VII–XIV, hier VII. Gegen diese Kritik wurde eingewandt, Interesse könne weiterhin nützlich sein, um Macht und Machtverhältnisse rational zu analysieren.Vgl. Thomas Nicklas, Politik zwischen Agon und Konsens. Monarchische Macht, ständische Gegenmacht und der Wille zum Zusammenleben im frühneuzeitlichen Europa, in: Kraus/Nicklas (Hrsg.), Geschichte der Politik (wie Anm. 21), 183–200, bes. 194. Auch dem liegt ein Verständnis von Interesse als einer objektivierbaren Kategorie zugrunde. Tatsächlich ist Interesse aber weder rational noch mythisch, sondern zunächst einfach beschreibend. Als Analysekategorie hilft es, relationale, meist gesellschaftliche, aber auch individuelle Konstellationen zu untersuchen; hier liegt das Potenzial für eine kulturgeschichtlich basierte Nutzung des Begriffs.Trotz der Kritik hat der Begriff seine Stellung behauptet. Gerade die Frühneuzeitforschung hat zu seiner begriffsgeschichtlichen Fundierung beigetragen.Vgl. z. B. Schilling, Konfessionalisierung (wie Anm. 5), 151 f. Vgl. zur Begriffsgeschichte u. a. Martin Papenheim, Interest (wie Anm. 22); Ernst Wolfgang Orth, Interesse, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3. Stuttgart 1982, 302–344, 362–365; Volker Gerhardt, Interesse, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4. Basel 1976, 479–494. Jüngst trugen die kulturgeschichtlich geprägten Studien von Nadir Weber und Philip Haas den Begriff groß im Titel. Beide nutzen ihn weitgehend in seiner zeitgenössischen Bedeutung im Sinne von Staatsräson, untersuchen jedoch nicht seinen Gebrauch in der politisch-diplomatischen Praxis.Vgl. Weber, Lokale Interessen (wie Anm. 4), bes. 63 f.; Philip Haas, Fürstenehe und Interessen. Die dynastische Ehe der Frühen Neuzeit in zeitgenössischer Traktatliteratur und politischer Praxis am Beispiel Hessen-Kassels. (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, Bd. 177.) Darmstadt/Marburg 2017, bes. 28. In einer kleinen Fallstudie hat Samuel Weber gezeigt, wie das zeitgenössische Interessenkonzept von einem diplomatischen Akteur rezepiert und adaptiert wurde.Vgl. Samuel Weber, Ein Verteidiger adliger „Interessen“ gegen republikanische „Leidenschaften“. Nuntius Federico Borromeo als Akteur im Zwyerhandel (1656–1659), in: Philippe Rogger/Nadir Weber (Hrsg.), Beobachten, Vernetzen, Verhandeln. Diplomatische Akteure und politische Kulturen in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft. (Itinera, Bd. 45.) Basel 2018, 45–67, bes. 58 f. Insgesamt verschiebt die Neue Diplomatiegeschichte den Fokus zusätzlich: Obwohl weiterhin von dynastischen, konfessionellen oder territorialen Interessen die Rede ist, wird zunehmend eine stärker soziologisch beeinflusste Perspektive eingenommen, die Interesse als Element sozialen Handelns verstehtVgl. Lehmkuhl, Diplomatiegeschichte (wie Anm. 21), 408.; die „Eigen“interessen diplomatischer Akteurinnen und Akteure geraten in den Blick. Dennoch fehlt auch hier eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff, seinen Grenzen und Potenzialen.II.Interesse im politiktheoretischen Diskurs des 16. und 17. JahrhundertsEtymologisch kommt Interesse vom Lateinischen „inter esse“ und bedeutet „dazwischen liegen/von Bedeutung sein/dabei sein“, was bereits auf die relationale Struktur hinweist.Vgl. Anm. 25. Seit dem 16. Jahrhundert weitete sich der Begriff, der bis dahin – auf das römische Recht zurückgehend – vor allem in einem ökonomischen Kontext im Sinne von Schadensersatz, Zinsen („id quod interest“) sowie Nutzen oder Schaden im Allgemeinen verwendet wurde; er wurde anthropologisiert und politisiert. Dabei lassen sich im 16. und 17. Jahrhundert drei zentrale Diskursbereiche ausmachen: politische Theorie, Naturrecht und Moralphilosophie.Vgl. Johan Heilbron, French Moralists and the Anthropology of the Modern Era: On the Genesis of the Notions of “Interest” and “Commercial Society”, in: Ders./Lars Magnusson/Björn Wittrock (Eds.), The Rise of the Social Sciences and the Formation of Modernity. Conceptual Change in Context, 1750–1850. Dordrecht 1998, 79–83. Vgl. zu den ökonomischen Diskursen: Wolf-Hagen Krauth, Gemeinwohl als Interesse. Die Konstruktion einer territorialen Ökonomie am Beginn der Neuzeit, in: Herfried Münkler/Harald Bluhm (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe. (Forschungsberichte der interdisziplinären Arbeitsgruppe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I.) Berlin 2001, 191–212; Neuendorff, Begriff (wie Anm. 18), 10–16.Der Begriff des Staatsinteresses avancierte im politischen Diskurs zum handlungsleitenden Prinzip, wobei er in enger Verbindung mit dem Konzept der Staatsräson – oder mit Blick auf das Reich den Arcana Imperii – stand. Naturrecht und Moralphilosophie hingegen nutzten den Terminus zur Beschreibung der menschlichen Natur. Die Idee des interessengeleiteten Menschen wurde zur Basis verschiedener naturrechtlicher Konzepte.Vgl. u. a. Heilbron, Moralists (wie Anm. 30), 79–82; Münkler, Namen (wie Anm. 4), 261. Zum Naturrechtsdiskurs vgl. u. a. Lionel A. McKenzie, Natural Right and the Emergence of the Idea of Interest in Early Modern Political Thought: Francesco Guicciardini and Jean de Silhon, in: History of European Ideas 4, 1981, 277–298. Für französische Philosophen wie Michel de Montaigne und François de La Rochefoucauld waren Interessen Triebfedern menschlichen Handelns. Aus der spanischen Moraltheologie kam eine negativ konnotierte Sicht auf das Einzelinteresse im Sinne von Eigennutz als Gegensatz zur Tugend und, übertragen auf das Politische, zum Gemeinwohl hinzu.Vgl. Gerhardt, Interesse (wie Anm. 25), 481 f. Diese negative Sicht erklärt für Papenheim, Interest (wie Anm. 22), 50, weshalb sich Interesse als politisches Konzept nur langsam durchsetzte. Zum Verhältnis von Gemeinwohl und Eigennutz vgl. Winfried Schulze, Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der frühen Neuzeit, in: HZ 243, 1986, 591–626; eine Reflexion des zeitgenössischen Interessenbegriffs fehlt. Mit der Zeit – und im Wechselspiel mit der politischen Theorie – wurde diese negative Sicht von einer pragmatischeren abgelöst, die den Menschen als interessengesteuert beschrieb.Vgl. Heilbron, Moralists (wie Anm. 30), 81, 87. Dies zeigt sich bei Montaigne und La Rochefoucauld ebenso wie bei Balthasar Gracián. Eigeninteresse und gemeinschaftliche Interessen wurden gegenübergestellt; zwar sei es in der Regel schädlich und dem Gemeinwohl unterzuordnen, dennoch dürfe es nicht ignoriert werden.Michel de Montaigne, Les Essais. Édition complète, bearb. v. André Lanly. Paris 2009, Buch III, Kap. I, 971. Interesse – obwohl meist negativ konnotiert – diente der Beschreibung menschlichen Handelns. In diesem Sinne wurde der Begriff auch im 18. Jahrhundert im wissenschaftlichen Gelehrtendiskurs aufgegriffen, um das Mit- und Gegeneinander der Forschenden zu beschreiben. Deutlich tritt hier wieder der Einfluss des Ökonomischen hervor, also der ursprünglichen Bedeutung von Interesse als Kosten-Nutzen-Kalkulation.Vgl. Füssel, Grenzen (wie Anm. 7), 415; Schmidt-Funke, Konkurrenz (wie Anm. 7); Cook, Matters (wie Anm. 7), 45 f.Der politiktheoretische Diskurs um Staatsinteressen und Staatsräson bewegte sich ebenfalls zwischen einer negativen Beurteilung und einer wertneutralen bis positiven Sicht: Im Kontext des Anti-Machiavellismus-Diskurses lautete der Vorwurf, interessenorientiertes Handeln verstoße gegen Religion, Moral und Tugend. Gleichzeitig erschien Interesse als scheinbar objektive Kategorie, die als Handlungsmaßstab eines Fürsten oder Gemeinwesens herangezogen werden konnte und Politik kalkulier- und berechenbar machen sollte.Vgl. Michael Stolleis, Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt am Main 1990, bes. 43–50, 60, 66 ff.; Nicklas, Politik (wie Anm. 24), 191.Als erster differenzierte Francesco Guicciardini zwischen Eigen-, Partikular- und Staatsinteressen: Da diese in einem Spannungsverhältnis stünden, müsse man die eigenen, „wahren“ Interessen erkennen, um das politische Handeln danach ausrichten zu können.Vgl. Heilbron, Moralists (wie Anm. 30), 79 f.; Papenheim, Interest (wie Anm. 22), 49 f. Für Giovanni Botero wiederum bedeutete die Verfolgung der Staatsräson Regieren entsprechend der Staatsinteressen, die er von Religion oder anderen Handlungsmaximen abgrenzte.Vgl. Heilbron, Moralists (wie Anm. 30), 80; Münkler, Namen (wie Anm. 4), 201 f. Eine derartige Gegenüberstellung löste sich mit der Zeit auf, so dass Interesse nicht mehr im Gegensatz zu moralischem Handeln stand, sondern als wertneutrale Beschreibung herangezogen wurde, die den Vorteil hatte, nicht theologisch oder transzendental aufgeladen zu sein.Vgl. Stolleis, Staat (wie Anm. 36), 66–68; Papenheim, Interest (wie Anm. 22), 50 f.Europaweit über Konfessionsgrenzen hinweg rezipiert wurde Henri de Rohans „De l’interest des princes et Estats de la chrestienté“Henri de Rohan, De l’interest des princes et Estats de la chrestienté. Paris 1639. Die Schrift wurde posthum ins Englische und Deutsche übersetzt: Henri de Rohan, A Treatise of the Interest of the Princes and States of Christendome. Written in French by the most noble and illustrious Prince, the Duke of Rohan. Translated into English by H[enry] H[unt]. Paris 1640; Henri de Rohan, Interesse Der Potentaten und Stände: Oder Unpassionirter Discurs, Worinnen der fürnemsten Potentaten und Stände der Christenheit / wares Interesse, Wolfahrt und Auffnemmen dieser Zeit bestehe: Was jeder auch für Reguln und Puncten in seiner Regierung in obacht zu nemmen habe: Sampt angehengten etlichen Historischen Exempeln […] Auß dem Frantzösischen in das Teutsche ubergesetzet 1640. Vgl. Jonathan Dewald, Status, Power, and Identity in Early Modern France. The Rohan Family, 1550–1715. University Park, PA 2015; J. H. M. Salmon, Rohan and Interest of State, in: Roman Schnur (Hrsg.), Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs. Berlin 1975, 121–140. Im Rahmen des Deutsch-Französischen Doktorandenkollegs Mainz–Dijon entsteht eine Dissertation zu Rohan, vgl. Timo Andreas Lehnert, Gleichgewicht, Konfession, Krieg. Henri de Rohan (1579–1638) und die internationalen Beziehungen in Europa, in: Markus Meumann (Hrsg.), Dreißigjähriger Krieg Online – Projekte, https://thirty-years-war-online.net/?s=lehnert (2.01.2021). (1639). Der Hugenottenführer schilderte die aktuelle französische auswärtige Politik als pragmatisch und interessengelenkt.Vgl. William Farr Church, Richelieu and Reason of State. Princeton, NJ 1972, 353 f. Interessen sollten zur Richtschnur politischen Handelns werden, nicht Leidenschaften oder „falsche“ Interessen. Letztere führten zu Unglück, wie die Konflikte des Dreißigjährigen Krieges belegten.Vgl. Rohan, De l’interest (wie Anm. 40), 26 f.; ders., Interesse (wie Anm. 40), 19. Auf den Punkt bringt Rohan dies in der vielzitierten ersten Passage:„Les Princes commandent aux peuples, l’interest commande aus princes. La connoissance de cét interest, est d’autant plus relevée par dessus celle des actions des Princes, qu’eux mesmes le sont par dessus les peuples. Le Prince se peut tromper, son conseil peut ester corrompu; mais l’interest seul ne peut iamais manquer selon qu’il est bien ou mal entendu, il fait viure ou mourir les Estats.”Ders., De l’interest (wie Anm. 40), 1.Für Rohan stand der Fürst im Mittelpunkt, dessen Interessen mit denen des Staates gleichzusetzen waren.Vgl. Salmon, Rohan (wie Anm. 40), 139 f.Aufschlussreich ist der Vergleich mit der deutschen Übersetzung (1640)Vgl. zur Rezeption in der Politik- und Rechtswissenschaft im 17. Jahrhundert Wolfgang E. J. Weber, Lateinische Geheimnisse. Außenpolitisches Handeln und Außenpolitik in der Politikwissenschaft des 17. Jahrhunderts, in: Heinz Duchhardt/Martin Espenhorst (Hrsg.), Frieden übersetzen in der Vormoderne. Translationsleistungen in Diplomatie, Medien und Wissenschaft. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 92.) Göttingen 2012, 67–88, bes. 83 f., die signifikante Unterschiede aufweist:„Die Fürsten gebieten ihren Underthanen, deß Lands Wolfahrt aber, gebeut vnd verbindt den Fürsten: Wie nun der Fürst mehr ist als seine Unterthanen, Also ist an rechter Erkandtnus deß Lands Interesse vnd Wolfahrt auch mehr, als an all andern seinem Thun vnd Lassen gelegen. Ein Fürst kann zu zeiten zu milt berichtet, vnd seine Raeth corrumpirt vnd bestochen werden: Deß Lands Wolfahrt aber kann nimmer fehlen.“Rohan, Interesse (wie Anm. 40), 1. Hervorhebungen der Verfasserin. Die Übersetzung von 1645 weicht bereits im Titel ab: Henri de Rohan, Interesse Der Potentaten vnd Stände Europae […], o.O. 1645. Vgl. Nicolas Detering, Krise und Kontinent. Die Entstehung der deutschen Europa-Literatur in der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2017, 185 f. Ähnliche Abweichungen beobachtet Paul bei Übersetzungen herrschaftstheoretischer Literatur ins Englische, vgl. Joanne Paul, Counsel and Command in Early Modern English Thought. (Ideas in Context, Vol. 125.) Cambridge/New York 2020, 9.Das französische „interest“ wird, wie auch im Folgenden, mit „Wohlfahrt“ und „Interesse“ übersetzt, was dem Ganzen eine gemeinwohlorientierte Konnotation verleiht.Zur Nähe von Gemeinwohl, öffentlichem oder allgemeinem Interesse vgl. Herfried Münkler/Harald Bluhm, Einleitung. Gemeinwohl und Gemeinsinn als politisch-soziale Leitbegriffe, in: Dies. (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn (wie Anm. 30), 9–30, 12 f. Die deutsche Fassung des Instrumentum Pacis Osnabrugensis (IPO) übersetzt „publicè interest“ mit „gemeinem Wesen“. IPO Art. IX,1 = § 67 IPM, Abschnitt III, Acta Pacis Westphalicae, Serie III: Protokolle, Verhandlungsakten, Diarien, Varia, Abteilung B: Verhandlungsakten, Bd. 1: Die Friedensverträge mit Frankreich und Schweden. Teilbd. 2: Materialien zur Rezeption, bearb. von Guido Braun, Antje Oschmann und Konrad Repgen. Münster 2007 (APW III B 1, 2), Nr. 1, 376. Ähnlich wird „l’interest des Princes“Rohan, De l’interest (wie Anm. 40), 1. als Interesse der „Potentaten vnd Ständ“Ders., Interesse (wie Anm. 40), 2. interpretiert. Im Kontext des Reiches rücken das Gemeinwesen und die Stände als politische Einheiten in den Fokus. Dies stützt Haas’ Beobachtung einer ausgeprägten Nähe von Interesse und Gemeinwohl in zeitgenössischen, deutschsprachigen Traktaten zu dynastischer Politik.Haas, Fürstenehe (wie Anm. 26), 23. Sowie: Münkler/Bluhm, Einleitung (wie Anm. 47), 19.Die deutschsprachige Staatsrechtsdebatte stand Konzepten von Staatsräson, Staatsinteressen und den Arcana Imperii zunächst distanziert gegenüber.Stolleis, Staat (wie Anm. 36), 60. Vgl. zum Verhältnis der italienischen, französischen und deutschen Staatsräson-Debatte Michael Behnen, „Arcana – haec sunt ratio status“. Ragion di Stato und Staatsräson. Probleme und Perspektiven (1589–1651), in: ZHF 14, 1987, 129–195. Auch als das dahinterstehende Gedankengut längst in die politische Praxis eingeflossen war, war man bemüht, sich nicht dem Vorwurf des Machiavellismus auszusetzen.Vgl. Stolleis, Staat (wie Anm. 36), 66. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts versachlichte sich die Debatte. Gerade in den Außenbeziehungen nahm man an, Fürsten würden von je spezifischen kollektiven Interessen geleitet; für den Bestand eines Staatswesens sei es nicht klug, sich allein von Tugend und Moral führen zu lassen. Michael Stolleis betrachtet diese Entwicklung als Basis für die Entstehung des modernen Völkerrechts.Vgl. ebd., 68. Ähnlich: Schilling, Konfessionalisierung (wie Anm. 5), 151 f. Dabei löste mitnichten eine säkulare – aber letztlich modern gedachte – Staatsräson die ältere Leitkategorie Dynastie ab; vielmehr wurde die Dynastie und damit dynastische Politik als Ganzes in die Debatte um Staatsräson und Staatsinteressen integriert. Dynastische Ehen erschienen als Mittel der Staatsräson.Vgl. Haas, Fürstenehe (wie Anm. 26), 109. Ähnliches gilt für Religion. Sie wurde zwar zum Teil politischen Überlegungen und Prinzipien untergeordnet, verlor aber nicht ihre Bedeutung als Handlungsmaßstab, das heißt Religion wurde verstärkt aus Perspektive der Staatsräson diskutiert. Konfessionelle und machtpolitische Überlegungen vermischten sich.Vgl. Schilling, Konfessionalisierung (wie Anm. 5), 150 f.; Ulrich Scheuner, Staatsräson und religiöse Einheit des Staats. Zur Religionspolitik in Deutschland im Zeitalter der Glaubenskämpfe, in: Schnur (Hrsg.), Staatsräson (wie Anm. 40), 363–405, 378, 389; Behnen, Arcana (wie Anm. 51), 190, passim.Zwei Punkte werden deutlich: Erstens fokussieren die theoretische Debatte in Frankreich und im Alten Reich auf den Bereich der Außenbeziehungen. In England hingegen fand der Begriff – befördert durch den Bürgerkrieg – bald mit Blick auf das Gegeneinander und den Ausgleich verschiedener gesellschaftlicher Interessengruppen in einem innenpolitischen Kontext Verwendung.Vgl. J. A. W. Gunn, “Interest Will Not Lie”: A Seventeenth-Century Political Maxim, in: JHIdeas 29, 1968, 553–555; ders., Politics and the Public Interest in the Seventeenth Century. London/Toronto 1969, 36–41; Albert Otto Hirschman, The Passions and the Interests. Political Arguments for Capitalism before Its Triumph. Princeton, NJ 1981, 37; Paul, Counsel (wie Anm. 46), bes. 153–160. Mit Blick auf das 18. Jahrhundert: Sider Jost, Interest (wie Anm. 7). Zweitens zeigen der staatstheoretische sowie der moralisch-philosophische Diskurs, dass Interesse sowohl eine präskriptiv-normative als auch eine deskriptiv-analytische Dimension innewohnte. Gerade bei Rohan überwog scheinbar das normative Moment, indem die Interessen des Fürsten bzw. des Staates als Leitlinie propagiert wurden.Vgl. Münkler, Namen (wie Anm. 4), 265, 279. Gleichzeitig zeigt sich insbesondere bei der Analyse der verschiedenen Fallbeispiele bereits der deskriptive Aspekt. Interesse erscheint als objektive Kategorie, nach der nicht nur das eigene Handeln ausgerichtet werden soll, sondern die es zugleich ermöglicht, das Gegenüber – ob es sich nun um Individuen oder Staatswesen handelt – einzuschätzen und sein zukünftiges Verhalten zu prognostizieren. Menschliches Handeln wirkt auf diese Weise kalkulier- und berechenbarer. Dies ist im Kontext der von Stolleis konstatierten Verwissenschaftlichung des politischen Theoriediskurses im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts zu betrachten: Wie die Natur wurden auch der Mensch und das politische Gemeinwesen beobachtet.Vgl. Stolleis, Staat (wie Anm. 36), 50. Interesse ist damit als Element politischer Sprache zu verstehen, mit dessen Hilfe relationale Verhältnisse im Sinne von „x hat ein Interesse an y“ beschrieben und artikuliert werden konnten.Vgl. Papenheim, Interest (wie Anm. 22).Die Interessendefinitionen suggerieren dabei Objektivität; tatsächlich sind sie norm- und wertebasiert.Laut Hillard von Thiessen sind „Normen […] Handlungserwartungen, die sich idealerweise […] auf Werte beziehen. Werte verleihen Normen Legitimität […]. Werte stellen generelle Orientierungsstandards dar und sind von einer Gemeinschaft geteilte, relativ stabile Vorstellungen vom Wünschenswerten.“ Hillard von Thiessen, Normenkonkurrenz. Handlungsspielräume, Rollen, normativer Wandel und normative Kontinuität vom späten Mittelalter bis zum Übergang zur Moderne, in: Arne Karsten/Hillard von Thiessen (Hrsg.), Normenkonkurrenz in historischer Perspektive. (ZHF, Beih. 50.) Berlin 2015, 241–286, 248 f. Das heißt, die Akteurinnen und Akteure bewerten sich bzw. das Gegenüber anhand nicht explizit ausgeführter Maßstäbe und beanspruchen so Deutungshoheit. Im Kontext frühneuzeitlicher Außenbeziehungen spielen Religion, Reputation, Dynastie, Gemeinwohl, aber auch Vorstellungen von Sicherheit und Frieden eine Rolle, wobei die jeweiligen Interpretationen zwischen den verschiedenen Akteurinnen und Akteure divergieren konnten und potenziell veränderlich sind.Vgl. z. B. Schilling, Konfessionalisierung (wie Anm. 5), 147–159; Michael Rohrschneider, Reputation als Leitfaktor in den internationalen Beziehungen der Frühen Neuzeit, in: HZ 291, 2010, 331–352; Christoph Kampmann, Der Ehrenvolle Friede als Friedenshindernis. Alte Fragen und neue Ergebnisse zur Mächtepolitik im Dreißigjährigen Krieg, in: Inken Schmidt-Voges/Siegrid Westphal/Volker Arnke/Tobias Bartke (Hrsg.), Pax perpetua. Neuere Forschungen zum Frieden in der Frühen Neuzeit. (bibliothek altes Reich, Bd. 8.) München 2010, 141–156; ders., Politischer Wandel im Krieg – politischer Wandel durch Krieg? Militärische Gewalt und politische Innovation in der Epoche des Dreißigjährigen Kriegs, in: Michael Rohrschneider/Anuschka Tischer (Hrsg.), Dynamik durch Gewalt? Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) als Faktor der Wandlungsprozesse des 17. Jahrhunderts. (Schriftenreihe zur Neueren Geschichte. NF, Bd. 1.) Münster 2018, 41–67; Inken Schmidt-Voges/Ana Crespo Solana, Introduction: New Worlds? Transformations in the Culture of International Relations around the Peace of Utrecht, in: Dies. (Eds.), New Worlds? Transformations in the Culture of International Relations Around the Peace of Utrecht. (Politics and Culture in Europe, 1650–1750.) Florence 2017, 1–17, bes. 6 f. Interessendiskurse stehen stets in Verbindung mit anderen, moralischen Diskursen, um Bedeutung zu erlangen.Vgl. Papenheim, Interest (wie Anm. 22), 54 f.; Schmidt-Voges/Crespo Solana, Introduction (wie Anm. 61), 6 f.Inwiefern sich diese theoretischen Debatten in der diplomatischen Praxis widerspiegeln, soll anhand der diplomatischen Kommunikation auf dem Westfälischen Friedenskongress schlaglichtartig untersucht werden. Ob die Gesandten die staatsrechtlichen Debatten rezipierten, lässt sich schwer überprüfen. In Einzelfällen ist bekannt, dass sie im Besitz zentraler Werke waren.Vgl. Schilling, Konfessionalisierung (wie Anm. 5), 155, 158. Samuel Weber zeigt, wie der Nuntius in Luzern, Federico Borromeo, Rohans Konzept adaptierte, ohne vermutlich die Schrift selbst gelesen zu haben. Vgl. Weber, Verteidiger (wie Anm. 27), bes. 58 f. Gotthard fordert eine „Wahrnehmungs- und Mentalitätsgeschichte der Entscheider“, Gotthard, Krieg (wie Anm. 21), 81. Erste Einblicke bei Magnus Ulrich Ferber, Die Gemeinschaft der Diplomaten in Westfalen als Friedenspartei, in: Dorothée Goetze/Lena Oetzel (Hrsg.), Warum Friedenschließen so schwer ist. Frühneuzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses. (Schriftenreihe zur Neueren Geschichte. NF, Bd. 2.) Münster 2019, 257–272. Gerade unter den kaiserlichen und reichsständischen Gesandten verfügten etliche über eine juristische Ausbildung und dürften mit den Staatsräsondebatten vertraut gewesen sein.Der braunschweigisch-lüneburgische Gesandte Jakob Lampadius promovierte im Bereich des ius publicum. Vgl. Volker Arnke, Gewalt, Frieden und das ius publicum der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Goetze/Oetzel (Hrsg.), Friedenschließen (wie Anm. 63), 307–322, hier 308. Um den Bogen zur diplomatischen Praxis zu schlagen, sollen im Folgenden die Instruktionen, die Berichterstattung, die Sitzungsprotokolle der Reichsstände und die Friedensverträge auf die Verwendung des Interessenbegriffs untersucht werden.III.Der Interessenbegriff in den Westfälischen FriedensverhandlungenEine begriffsgeschichtliche Analyse kann nur eine begrenzte Sicht liefern, da Interessen auch dann von den Akteurinnen und Akteuren als handlungsleitend verstanden werden können, wenn sie diese nicht explizit benennen.Vgl. zur Kritik an der Begriffsgeschichte: Luise Schorn-Schütte, Historische Politikforschung. Eine Einführung. München 2006, 73–77. Harald Mayer weist auf Grenzen und Potenziale hin und resümiert, dass die „These, dass Begriffe als ‚Indikatoren‘ und ‚Faktoren‘ der von ihnen erfassten geschichtlichen Ereignis- und Handlungszusammenhänge einzuschätzen sind, […] immer noch hilfreich für die Kontextualisierung politisch-sozialer Begriffe [scheint]“. Harald Meyer, Die „Taishō-Demokratie“. Begriffsgeschichtliche Studien zur Demokratierezeption in Japan von 1900 bis 1920. (Welten Ostasiens, Bd. 4.) Bern 2005, 115. Dennoch eröffnet eine Bestandsaufnahme der Verwendung des Interessenbegriffs in den Westfälischen Friedensverhandlungen den Blick auf den zeitgenössischen Gebrauch in der Praxis: Wie wurde über Interessen gesprochen? Um wessen Interessen handelte es sich? Wer war woran interessiert? Welche Interessen galten als legitim oder illegitim? Interesse darf dabei nicht – wie die Quellen suggerieren – als objektive Kategorie verstanden werden. Vielmehr handelt es sich um Zuschreibungen mit spezifischen kommunikativen Funktionen.Vgl. Hillard von Thiessen/Christian Windler, Einleitung. Außenbeziehungen in akteurszentrierter Perspektive, in: Dies. (Hrsg.), Akteure der Außenbeziehungen (wie Anm. 3), 1–12, hier 5; Schmidt-Voges/Crespo Solana, Introduction (wie Anm. 61), 6 f. Dieser Beitrag will schlaglichtartig das Untersuchungsgebiet ausleuchten, um abschließend grundlegende methodische Überlegungen anstellen zu können.Vgl. auch mit tiefergehenden Einzelstudien zum taktischen Gebrauch von Interessenkommunikation und der Prioritätensetzung in Entscheidungsfindungsprozessen demnächst die Habilitation der Autorin.Grundlage bildet ein breites Spektrum diplomatiegeschichtlicher Quellen, die unterschiedliche Akteurinnen und Akteure in verschiedenen Kontexten berücksichtigen: (1) die Friedensverträge zwischen Spanien und den Niederlanden (Friede von Münster), dem Kaiser und Frankreich (IPM) sowie dem Kaiser und Schweden (IPO)Diese sind ediert in Acta Pacis Westphalicae (APW), Serie III: Protokolle Verhandlungsakten, Diarien, Varia, Abteilung B: Verhandlungsakten, Bd. 1: Die Friedensverträge mit Frankreich und Schweden, Teilbd. 1: Urkunden, bearb. v. Antje Oschmann. Münster 1998 (APW III B 1,1); sowie das Glossar: http://www.pax-westphalica.de/ipmipo/index.html (29.11.2021). Der spanisch-niederländische Frieden liegt als Faksimile-Druck vor: Der Frieden von Münster 1648. Der Vertragstext nach einem zeitgenössischen Druck und die Beschreibungen der Ratifikationsfeiern, hrsg. v. Gerd Dethlefs/Johannes Arndt/Ralf Klötzer. Münster 1998., (2) die kaiserlichen, französischen, spanischen und schwedischen sowie für die Reichsstände die kurbayerischen und kursächsischen InstruktionenDie Instruktionen des Kaisers, Frankreichs und Schwedens sind ediert in: APW, Serie I: Instruktionen, Bd. 1: Instruktionen: Frankreich, Schweden, Kaiser, bearb. v. Fritz Dickmann, Kriemhild Goronzy, Emil Schieche, Hans Wagner und Ernst Manfred Wermter. Münster 1962 (APW I 1). Berücksichtigt wurden jeweils die letzte Fassung der Hauptinstruktion sowie die aktuellen Neben- und Geheiminstruktionen: APW I 1, Nr. 5, 11, 12 (Frankreich), 17–20 (Schweden), 26–29 (Kaiser); Geheiminstruktion für den spanischen Prinzipalgesandten Peñaranda vom 25.02.1664 (Konzept: Madrid, Archivo Histórico Nacional, Sección de Estado [AHN Estado], legajo 2880, unfol.; für die Bereitstellung der Transkription danke ich Michael Rohrschneider); Die diplomatische Korrespondenz Kurbayerns zum Westfälischen Friedenskongress. Bd. 1: Die Instruktionen von 1644, hrsg. von der Kommission für Bayerische Landesgeschichte, bearb. v. Gerhard Immler. (Quellen zur neueren Geschichte Bayerns, Bd. 1.) München 2000, Nr. II, III; Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Geheimes Archiv [HStAD, GA], Loc. 8130/1, fol. 152–193’., (3) kaiserliche, schwedische, französische und kursächsische Korrespondenzen, (4) Diarien kaiserlicher und reichsständischer Gesandter sowie (5) die Beratungsprotokolle der reichsständischen Kurien.Vgl. die Aktenedition Acta Pacis Westphalicae (APW), hrsg. v. der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste (seit 1979) in Verbindung mit der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e. V. durch Max Braubach (†), Konrad Repgen (†) und Maximilian Lanzinner. Münster 1962–2015, bis 2008 erschienene Bände online zugänglich unter: https://apw.digitale-sammlungen.de/ (29.11.2021).Die stichprobenartige Analyse liefert Einblicke in die vielfältige Verwendung des Interessenbegriffs von unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren in verschiedenen europäischen Sprachen, in diversen Kontexten: Mit den Instruktionen ist die offizielle Linie der höfischen Entscheidungsträger berücksichtigt, während die Korrespondenzen den internen Sprachgebrauch der Gesandten mit den Heimathöfen erfassen. Die Protokolle geben Einblick in die Verwendung des Interessenbegriffs der Reichsstände in den Beratungen. Die Verträge spiegeln die endgültige offizielle diplomatische Sprache wider.Eine Bestandsaufnahme auf Basis der Friedensverträge zeigt, dass Formen von Interesse zum Standardvokabular gehörten: Im Vertrag zwischen dem Kaiser und Schweden finden sich 15 verschiedene Verwendungen, im Vertrag zwischen Kaiser und Frankreich acht. In den deutschen und französischen Übersetzungen sind es etwas weniger, da hier auf äquivalente Ausdrucksweisen zurückgegriffen wurde.Auskunft über die Übersetzungsvielfalt bietet das Glossar (APW III B 1,2) (wie Anm. 47); http://www.pax-westphalica.de/ipmipo/index.html (29.11.2021). Im spanisch-niederländischen Friedensvertrag werden in der lateinischen Fassung zwei Mal Formen von Interesse verwendet, in der deutschen sechs Mal, in der niederländisch-spanischen sieben Mal.Frieden von Münster (wie Anm. 68), 71–143.Bereits hier zeigt sich die sprachliche Verwendungsvielfalt: Interesse tritt als Substantiv, als substantiviertes Adjektiv und als Verb auf: „qui sont intéresséz en la Paix”APW I, 1 (wie Anm. 69), Nr. 10, 144. „Romerske rijkes interesse“Ebd. Nr. 17, 234, „aller Interessierten“Fernere Instruction: HStAD, GA (wie Anm. 69), Loc. 8130/1, fol. 176., „los intereses comunes de sangre y de estado”Konzept: AHN, Estado, legajo 2880 (wie Anm. 69), unfol.. Der Begriff wird dabei meist durch vorangestellte Adjektive, Komposita oder besitzanzeigende Substantive inhaltlich präzisiert; etwa den Zusatz, um wessen Interessen es sich handelt, um den Bezugspunkt und/oder die Art des Interesses. Andernfalls bliebe der Begriff eine „Leerformel”Pradetto, Interessen (wie Anm. 12), 34. Auch: Neuendorff, Begriff (wie Anm. 18), 17; Papenheim, Interest (wie Anm. 22), 54 f..Ähnlich findet sich der Interessenbegriff als Element interner Entscheidungsfindungsprozesse, wie ihn Gutachten, Instruktionen und Resolutionen abbilden. Eine Analyse der eigenen sowie der gegnerischen Interessen bildete die Grundlage für die Weisungen an die Diplomaten am Verhandlungsort. Um das Spektrum der Begriffsverwendung zu verdeutlichen, soll exemplarisch diese interne Interessenabwägung anhand kaiserlicher Gutachten und Instruktionen beleuchtet werden, die die kaiserlichen Interessen resultierend aus der Rollenvielfalt Ferdinands III. reflektieren.Die Rollen Ferdinands III. als Reichsoberhaupt und Habsburger bargen Konfliktpotential, wobei ein Hauptproblem die viel beschworene Einheit der Casa de Austria war.Grundlegend: Thiessen, Normenkonkurrenz (wie Anm. 60), 249 f. Zur kaiserlichen Rollenvielfalt u. a. Lena Oetzel, Zwischen Dynastie und Reich. Rollen- und Interessenkonflikte Ferdinands III. während der Westfälischen Friedensverhandlungen, in: Katrin Keller/Martin Scheutz (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie und der Dreißigjährige Krieg. Jahrestagung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 2018. (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Bd. 73.) Köln/Weimar/Wien 2020, 161–176; Dorothée Goetze, Frieden um (fast) jeden Preis – Die Politik Ferdinands III. in der Schlussphase des Westfälischen Friedenkongresses zwischen Rollenkonkurrenz, Prinzipientreue und dogmatischem Pragmatismus, in: Volker Arnke/Siegrid Westphal (Hrsg.), Der schwierige Weg zum Westfälischen Frieden. Wendepunkte, Friedensversuche und die Rolle der „Dritten Partei“. (bibliothek altes Reich, Bd. 35.) München 2021, 131–154. Von Beginn an hatte der Kaiser betont, nicht ohne Spanien Frieden schließen zu wollen:„Eß ist aber dise meine intention zuemahl nit dahin angesehen, daß man wegen deß Spanischen interesse die reichs- und fridenshandlungen mit Schweden, Franckreich oder auch den protestierenden aufhalte, sondern dieselbige sovil nun mensch- und müglich befördere […], jedoch dergestalt, daß der schluß deß fridens ohne inclusion der cron Spanien nicht geschehe.“Ferdinand III. an Trauttmansdorff, Linz 1646 Juli 10, APW, Serie II: Korrespondenzen, Abt. A: Die kaiserlichen Korrespondenzen, Bd. 4: 1646, bearb. v. Hubert Salm, Brigitte Wübbeke-Pflüger, Wilhelm Engels, Manfred Klett, Antje Oschmann. Münster 2001 (APW II A 4), Nr. 247, 409. Hervorhebung der Verfasserin, so auch im Folgenden. Vgl. Dorothée Goetze, Einleitung, in: APW, Serie II: Korrespondenzen, Abteilung A: Die kaiserlichen Korrespondenzen, Bd. 10: 1648–1648, bearb. v. ders. Münster 2015 (APW II A 10), XLIII–CXVII, LXf.; Oetzel, Dynastie (wie Anm. 78), 171–175.Ferdinand III. wollte weder einen Frieden ohne Spanien noch die Verhandlungen mit den Reichsständen respektive Frankreich gefährden. Tatsächlich vermied er eine endgültige Positionierung, bis der Friedensschluss hieran fast gescheitert wäre. Der Druck von Seiten der Reichsstände „den friden umb fremdes interesse willen nit aufzuhalten”Nassau, Krane und Volmar an Ferdinand III., Münster 1648 September 25, APW II A 10 (wie Anm. 79), Nr. 28, 138., wie es die kaiserlichen Gesandten in einer Relation vom September 1648 schrieben, wuchs beständig. Eine Neugewichtung der Interessen fand schließlich ihren Ausdruck in einem Gutachten des Geheimen Rats, das „[d]ie entscheidende Wende“Goetze, Einleitung (wie Anm. 79), LXIV. in der kaiserlichen Politik und ein gutes Beispiel für eine differenzierte Interessenabwägung darstellt:„Nun is zu betau[er]n, nit allin vor Euer Mayestät, sonder vor deß ganzen Reichs und christenheit interesse, daß die reichsstende sich so weit bloß gegeben, daß ein solliches [der Universalfriede] nit mehr von Franckhreich zu hoffen, es sey dan, das die cron Franckhreich selbst erkenne, daß ihr interesse ist, mit Spanien ingleichem frieden zu machen […]. Wie dem allem [sei], so haben Euer Mayestät ihres orths bißher alles gethan, was sie ex societate belli et coniunctione sanguinis et connexitate interesse communis immer tuen kinden und mögen […].“Gutachten im Geheimen Rat (Trauttmansdorff, Martiniz d. J., Kurz, Auersperg, Prickhelmayr), APW II A 10 (wie Anm. 79), Nr. 18, 83 f.Im Folgenden wurden detailliert die Vor- und Nachteile abgewogen mit dem Schluss, dass es keine Alternative gebe, „Ihrer Mayestät erzhauß in Teutschlandt zu salviren, auch des königs in Hispanien interesse und königreich von noch grösserer gefahr zu retten“.Ebd. 94.Hier zeigen sich zentrale Elemente der Verwendung von Interesse: (1) Es muss klargestellt werden, um wessen Interesse es sich handelt (Akteur). Mit Spanien, Frankreich, dem Kaiser, dem Reich, der Christenheit und der Gemeinschaft wurde verschiedenen (kollektiven) Akteurinnen und Akteuren Interessen zugeschrieben, die staatlicher, aber auch ideeller Natur sein konnten. Gerade bei Letzteren zeigt sich der Anspruch auf moralische Deutungshoheit. (2) Dabei wird der Begriff chiffrenartig verwendet, d. h. der Bezugspunkt des Interesses wird nicht zwingend ausgeführt, sondern als bekannt vorausgesetzt; die Nennung des Akteurs beschreibt ihn implizit. (3) In der Detailanalyse findet der Begriff weniger Verwendung. Vielmehr steckt er den Argumentationsrahmen ab, in dem die Prioritätensetzung der definierten Interessen stattfand. (4) Schließlich geht mit der Interessenzuschreibung eine Wertung einher, wobei nicht die Existenz von Interessen an sich als negativ deklariert wird, sondern deren spezifische Definition durch das Gegenüber. So wurden den Reichsständen und Frankreich vorgeworfen, entgegen der eigenen Interessen zu handeln, wohingegen der Kaiser die Interessen der gesamten Christenheit im Blick habe. Damit wurde sowohl Deutungshoheit über die Interessendefinition beansprucht als auch eine moralisch höherwertige Position eingenommen. Umgekehrt sprachen die Reichsstände vom „frembden interesse“ und nahmen eine ebensolche Wertung vor. Interesse konnte also – intern wie extern – als Marker von Zugehörigkeit und Abgrenzung genutzt werden und war letztlich ein Mittel im Kampf um die Deutungshoheit am Kongress.Im Folgenden werden die verschiedenen Elemente einer Interessenkonstellation systematisch aufgeschlüsselt, um ein Panorama der Verwendungsweisen zu eröffnen. Es ist nach dem Subjekt, also den Akteurinnen und Akteuren (wer ist interessiert?), und dem Bezugspunkt des Interesses (woran ist er/sie interessiert?) ebenso zu fragen wie nach dem Stellenwert, das dem Interesse zugesprochenen wird. Auf diese Weise lässt sich Interesse als relationales Verhältnis erfassen, das Akteurin bzw. Akteur und Bezugspunkt verbindet.1. Vielfalt der Akteurinnen und AkteureUm wessen Interesse handelte es sich bzw. wem wurden Interessen zugeschrieben? Überwiegend ist von überindividuellen, kollektiven Einheiten die Rede: einem HerrschaftsgebildeVgl. z. B. 1647 November 20, APW, Serie III: Protokolle Verhandlungsakten, Diarien, Varia, Abteilung C: Diarien, Bd. 1: Diarium Chigi 1639–1651, Teilbd. 1: Text, bearb. v. Konrad Repgen. Münster 1984 (APW III C 1,1), 373., einer DynastieVgl. z. B. Sitzung des Fürstenrats (sessio publica LII) Osnabrück 1647 September 20/30, APW, Serie III: Protokolle Verhandlungsakten, Diarien, Varia, Abteilung A: Protokolle, Bd. 3: Die Beratungen des Fürstenrates in Osnabrück, Teilbd. 4: 1646–1647, bearb. v. Maria-Elisabeth Brunert. Münster 2006 (APW III A 3, 4), Nr. 144, 350. oder einer politischen Korporation wie den StändenVgl. z. B. Trauttmansdorff an Ferdinand III., Münster 1646 Februar 27, APW, Serie II: Korrespondenzen, Abteilung A: Die kaiserlichen Korrespondenzen, Bd. 3: 1645–1646, bearb. v. Karsten Ruppert. Münster 1985 (APW II A 3), Nr. 180, 327.. Gerade Dynastien als zentrale kollektive Akteure frühneuzeitlicher Außenbeziehungen werden häufig als Subjekte des Interesses genannt.Vgl. z. B. Schilling, Konfessionalisierung (wie Anm. 5), 147–150; Haas, Fürstenehe (wie Anm. 26). Bei Herrschenden handelt es sich sowohl um Einzelpersonen, gleichzeitig stehen sie für das Herrschaftsgebiet und die Dynastie, repräsentieren also überindividuelle Einheiten.Vgl. z. B. Frieden von Münster 1648 (wie Anm. 68), 97, 133. Herrscher bzw. Herrscherin und Territorium sind aber nicht gleichzusetzen, was das Reich und die geschilderte Rollenvielfalt Ferdinands III., die sich nachhaltig auf seine Interessen auswirkte, verdeutlichen.Häufig wurde Interesse zur Gruppenbezeichnung; die Akteurinnen und Akteure wurden über den Bezugspunkt des Interesses beschrieben. So erklärte der Lübecker Gesandte im Städterat während einer Debatte über einen möglichen ständischen Vorbehalt gegen die französische Satisfaktion: „Gleich wie dieses reservatum oder erclärung die interessatos principaliter angehe und sie selbsten, wo sie der schuh drückhe, am besten wißen […].“153. Sitzung des Städterats Osnabrück 1648 August 12 9 Uhr, APW, Serie III: Protokolle Verhandlungsakten, Diarien, Varia, Abteilung A: Protokolle, Bd. 6: Die Beratungen der Städtekurie Osnabrück 1645–1649, bearb. v. Günter Buchstab. Münster 1981 (APW III A 6), Nr. 175, 842.Die Stände spielten als Akteure im Reich eine besondere Rolle, wobei je nach Kontext zwischen katholischen und protestantischen Reichsständen differenziert oder sie als Einheit dargestellt wurden.Vgl. z. B. Plenarkonferenz der katholischen Stände, Münster 1647 März 3, APW, Serie III: Protokolle Verhandlungsakten, Diarien, Varia, Abteilung A: Protokolle, Bd. 4: Die Beratungen der katholischen Stände, Teilbd. 1: 1645–1647, bearb. v. Fritz Wolff unter Mitwirkung von Hildburg Schmidt-von Essen. Münster 1970 (APW III A 4, 1), Nr. 76, 515. Gelegentlich finden sich, wie gezeigt, auch abstrakte Kollektive als Träger von Interessen, wie das Gemeinwesen oder die Christenheit.Vgl. auch APW I 1 (wie Anm. 69), Nr. 5, 104. Christenheit wurde konfessionell aufgeladen oder konfessionsübergreifend als Klammer verwendet. Vgl. Bent Jørgensen, Konfessionelle Selbst- und Fremdbezeichnungen im 16. Jahrhundert. (Colloquia Augustana, Bd. 32.) Berlin 2014, bes. 548. Dabei wurde nicht immer klar präzisiert, wer genau welches Interesse hatte. Vielmehr diente Interesse der Beschreibung von Gruppenzugehörigkeit; es hatte also eine integrative bzw. exkludierende Funktion.Darüber hinaus finden sich Verweise auf Einzelpersonen als Interessenträgerinnen bzw. -träger. Hierbei handelte es sich – neben den Herrschenden – um Minister und einzelne Gesandte. Die Forschung fokussiert meist auf die Perspektive der Herrschenden und Dynastien oder auf die der Diplomaten. Dabei ist es wichtig, beide Ebenen und somit die Pluralität der Akteurinnen und Akteure zu erfassen.2. Bezugspunkte des InteressesDie Differenzierung der Bezugspunkte des Interesses ist so komplex wie die sich u. a. aus der Rollenvielfalt ergebenden, verschränkten Interessen der Akteurinnen und Akteure, wie das Beispiel Ferdinands III. zeigt. Der Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann unterscheidet zwischen individuellen, materiellen und sozialen Interessen und vermischt dabei Subjekt- und Objekt-Ebene.Alemann, Grundlagen (wie Anm. 11), 145 f. Max Weber spricht von materiellen und ideellen Interessen, die weiter in andere Formen des Interesses – etwa ökonomische – differenzierbar sind.Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass. Teilbd. 4: Herrschaft. (Max Weber Gesamtausgabe. Abt. I, Schriften und Reden, Bd. 22.) Tübingen 2005. Zu Webers Interessenbegriff vgl. Lepsius, Interessen (wie Anm. 16). Tatsächlich sind die Übergänge oft fließend. Der Faktor Religion verdeutlicht dies: Als religiös beschriebene Interessen sind nicht nur ideell, sondern beinhalten meist eine machtpolitische, territoriale und/oder finanzielle Ebene. Damit stellt sich die Frage nach dem die eigene Interessendefinition prägenden Norm- und Wertehorizont.Vgl. Gotthard, Krieg (wie Anm. 21), 77. Welche Rolle spielten z. B. Ehre und Reputation, Friedensvorstellungen oder Sicherheitsdenken?Dennoch lassen sich im Kontext der Friedensverhandlungen eine Reihe spezifischer Bezugspunkte des Interesses ausmachen: Es ging um HerrschaftsrechteVgl. z. B. Diarium Leuber, 1647 Mai 31/Juni 10, HStAD, GA (wie Anm. 69), Loc. 8134/1., ErbangelegenheitenVgl. z. B. Diarium Leuber, 1646 Juni 19/29, HStAD, GA (wie Anm. 69), Loc. 8134/1., territorialeVgl. z. B. Trauttmansdorff, Lamberg und Krane an Ferdinand III., Osnabrück 1646 Mai 7, APW II A 4 (wie Anm. 79), Nr. 79, 144. und finanzielleVgl. z. B. Ferdinand III. an Nassau, Lamberg, Krane und Volmar, Wien 1649 Januar 4, APW II A 10 (wie Anm. 79), Nr. 133, S. 480. Ansprüche. Bei Letzteren tritt die ursprüngliche Wortbedeutung von Interesse als Schadensersatz/Zinsen hervor. Gerade hier waren besonders häufig einzelne Gesandte Träger des Interesses; genauso findet sich diese Bedeutung aber auch in den Vertragstexten.Art. IV, 26 IPO, APW III B 1, 2 (wie Anm. 47), 250 f. Interesse wird in der deutschen Fassung mit „Schaeden / Vnkosten und Interesse“ und „jaehrliche Pension” übersetzt.Der Bezugspunkt des Interesses konnte auch abstrakter, also in gewissem Sinne ideell sein. Im Kontext der Friedensverhandlungen stechen Religion bzw. Glaube und Frieden hervor, wobei diese eng mit handfesten materiellen, d. h. territorialen, finanziellen und machtpolitischen Interessen verwoben waren, wie z. B. die Verhandlungen um den Geistlichen Vorbehalt zeigen.Vgl. z. B. APW I 1 (wie Anm. 69), Nr. 17, 235; Übersetzung, ebd. Nr. 17a, 295. Bisweilen wurden diese unter „interesse religionis“Konferenz der Gesandten der katholischen Kurfürsten, Münster 1646 April 21, APW III A 4, 1 (wie Anm. 90), Nr. 42, 203. oder auch konfessionell präzisiert „catholicorum interesse“Plenarkonferenz der katholischen Stände, Münster 1647 März 31, APW III A 4, 1 (wie Anm. 90), Nr. 76, 516. als Sammelbegriff zusammengefasst, mit deren Hilfe eine generelle Position beschrieben wurde, ohne die Details zu schildern. Damit wurde der Anspruch erhoben, dass es um mehr gehe als um territoriale oder machtpolitische Fragen.Das vielfach bekundete Interesse am Frieden – oder der Vorwurf eines Mangels an diesem – ist noch abstrakter. Frieden erscheint als allgemeines, hohes Ziel. Das Interesse am Frieden bildete den kleinsten gemeinsamen Nenner; der Vorwurf, dieses fehle, entzog den Verhandlungen ihre Grundlage. Das dahinter unterschiedliche Friedensbegriffe und konkurrierende Interessen in anderen Bereichen standen, konnte hinter allgemeinen Bekundungen verdeckt werden.Vgl. z. B. „interesset publicae pacis” (Salvius an Servien, Osnabrück 1645 April 3/13, APW, Serie II: Korrespondenzen, Abteilung C: Die schwedischen Korrespondenzen, Bd. 1: 1643–1645, bearb. v. Ernst Manfred Wermter. Münster 1965 [APW II C 1], Nr. 315, 564). Zu den zeitgenössischen Friedenskonzeptionen und ihrer Bedeutung für Friedensverhandlungen vgl. Kampmann, Friede (wie Anm. 61) sowie Irene Dingel/Michael Rohrschneider/Inken Schmidt-Voges/Siegrid Westphal/Joachim Whaley (Hrsg.), Handbuch Frieden im Europa der Frühen Neuzeit. Berlin/Boston 2020.Interesse diente demnach oftmals als Chiffre, hinter der sich Positionen verbargen, die als bekannt vorausgesetzt wurden. Wurden die inhaltlichen Details diskutiert, fand der Begriff, wie in dem kaiserlichen Gutachten, weniger Verwendung. Gleichzeitig zeigen die Debatten um das Interesse am Frieden oder religiöse Interessen bereits, wie sehr Interesse in der Kommunikation als Mittel im Kampf um Deutungshoheiten diente.3. Der Stellenwert des Interesses in EntscheidungsprozessenSchließlich ist zu fragen, wie das Verhältnis zwischen Akteur und Bezugspunkt zu beschreiben ist; es geht um den Stellenwert des Interesses und die ihm zugesprochene Legitimität. Eine solche Bewertung ist in der internen Kommunikation und den Verhandlungen zentral: In ersterer musste geklärt werden, wie wichtig ein Interesse im Verhältnis zu einem anderen Interesse war. Was hatte Priorität, der Friede im Reich oder die Einheit des Hauses Habsburg? Wann waren Kompromisse möglich, wo waren rote Linien? War es ein lang-, mittel- oder kurzfristiges Ziel? Eine solche Interessenanalyse war wichtiger Teil politischer Entscheidungsprozesse.Vgl. u. a. Ulrich Pfister (Hrsg.), Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen. (Kulturen des Entscheidens, Bd. 1.) Göttingen 2019; Philip Hoffmann-Rehnitz/André Krischer/Matthias Pohlig, Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, in: ZHF 45, 2018, 217–281; Ursula Lehmkuhl, Entscheidungsprozesse in der internationalen Geschichte. Möglichkeiten und Grenzen einer kulturwissenschaftlichen Fundierung außenpolitischer Entscheidungsprozesse, in: Loth/Osterhammel (Hrsg.), Internationale Geschichte (wie Anm. 23), 187–207. In den Verhandlungen musste die Bedeutung des eigenen Anliegens herausgestrichen bzw. das des Gegenübers abgewertet werden; es ging um die Legitimität und Deutungshoheit. Sprachlich wurde dies etwa durch ein ergänzendes Adjektiv sichtbar gemacht.Vgl. u. a. APW I 1 (wie Anm. 69), Nr. 17, 235; Korrespondenz Kurbayerns I (wie Anm. 69), 1, 41. Die scheinbare Formelhaftigkeit war Ausdruck des spezifischen Diskurses, in dem die Gesandten agierten und verhandelten.Vgl. zur Formelhaftigkeit von Sprache u. a. Volker Seresse, Zur Praxis der Erforschung politischer Sprachen, in: Angela de Benedictis/Gustavo Corni/Brigitte Mazohl/Luise Schorn-Schütte (Hrsg.), Die Sprache des Politischen in actu. Zum Verhältnis von politischem Handeln und politischer Sprache von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Göttingen 2009, 163–184, bes. 169 f.; Rainer Hülsse, Sprache ist mehr als Argumentation. Zur wirklichkeitskonstituierenden Rolle von Metaphern, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 10, 2003, 211–246.Es blieb aber nicht bei einer rein sprachlich-formalen Kennzeichnung; es fand eine präzise Abwägung statt: Die eigenen wie auch die Interessen Dritter wurden gegeneinandergehalten; die oben geschilderten kaiserlichen Überlegungen zur Einheit der Casa de Austria zeigen dies. Die Gesandten erhielten etwa die Weisung, die Interessen von Bündnispartnern zu unterstützen, solange diese nicht die eigenen behinderten.Vgl. z. B. APW I 1 (wie Anm. 69), Nr. 17, 243, Übersetzung, ebd. Nr. 17a, 302. Der Interessenbegriff ermöglichte es, komplexe Sachverhalte zu bündeln und sie schlagwortartig in der Diskussion aufzugreifen.Ebenso wurde die Legitimität eines Interesses diskutiert. Die des eigenen konnte betont werden, wenn etwa der Vertreter Sachsen-Weimars im Fürstenrat vom „chur- und fürstlichen haußes Sachßen rechtmäßigen interesse“Sitzung des Fürstenrats (sessio publica LII) Osnabrück 1647 September 20/30, APW III A 3, 4 (wie Anm. 85), Nr. 144, 350. Hervorhebung der Verfasserin. sprach. Umgekehrt wurde die Legitimität eines Interesses bestritten. So erklärten die Kaiserlichen mit Blick auf braunschweig-lüneburgische Entschädigungsansprüche:„Wan einem iedwedern nach seiner impression ein interesse zu erdencken und derentwegen recompens zu suchen sölte nachgegeben werden, würde man in infinitum gehen und nimmer zu endt kommen […].“Protokoll, [Osnabrück] 1647 März 1, Beilage A zu: Trauttmansdorff, Lamberg, Krane und Volmar an Ferdinand III., Osnabrück 1647 März 4, APW, Serie II: Korrespondenzen, Abteilung A: Die kaiserlichen Korrespondenzen, Bd. 5: 1646–1647, bearb. v. Antje Oschmann. Münster 1993 (APW II A 5), Nr. 290, 585.Gerade bei territorialen Fragen und Besitzansprüchen ist die enge Verbindung zum ursprünglichen finanziellen Kontext als Schadensersatz oder eben als Rechtsanspruch erkennbar.Vgl. Diarium Leuber, 1649 April 5/15, HStAD, GA (wie Anm. 69), Loc. 8134/3. Ein (legitimes) Interesse zu haben, bedeutete, einen Rechtsanspruch zu besitzen.Dem Gegenüber wurde häufig unterstellt, nicht im eigenen, sondern im Interesse Dritter zu handeln, wovor Rohan explizit warnte. Die Kaiserlichen warfen den protestantischen Ständen wiederholt vor, die Interessen der Kronen zu verfolgen.Vgl. Trauttmansdorff an Ferdinand III., Osnabrück 1646 April 16, APW II A 3 (wie Anm. 86), Nr. 273, 513. Es war eben nicht das Haben eines Interesses an sich, das kritisiert wurde, es war die jeweilige Ausdeutung. Interesse erschien objektiv und diente dazu, das eigene Handeln, das der Verbündeten und der Gegner zu beschreiben und in der eigenen Wahrnehmung kalkulierbar zu machen. Mehr noch, mit ihm ließen sich Wertungen – das richtige oder falsche Interesse – und Inklusion und Exklusion – das eigene gegenüber dem gegnerischen Interesse – kommunizieren. Dem lag keine grundlegende Ablehnung des Konzepts zugrunde.Obwohl der theoretische Diskurs eine prinzipiell negative Bewertung von als partikular, individuell oder privat beschriebenen Interessen nahelegtVgl. z. B. Mazarin an Servien 19 Paris 1646 Dezember 21, APW, Serie II: Korrespondenzen, Abteilung B: Die französischen Korrespondenzen, Bd. 5: 1646–1647. Teilbd. 1: 1646–1647, bearb. v. Guido Braun unter Benutzung der Vorarbeiten von Kriemhild Goronzy, Achim Tröster, unter Mithilfe von Antje Oschmann am Register. Münster 2002 (APW II B 5, 1), Nr. 33, 170., zeichnet die diplomatische Praxis ein pragmatischeres Bild: Gerade in den Beratungen der Stände wurde wertfrei von dem eigenen oder dem Partikularinteresse Dritter gesprochen.Vgl. z. B. Plenarkonferenz der katholischen Stände Osnabrück 1647 Februar 11, APW III A 4, 1 (wie Anm. 90), Nr. 73, 498. Auch das Interesse von Einzelpersonen wurde nicht per se abgewertet.Vgl. z. B. Trauttmansdorff an Kurz, Münster 1646 August 17, APW II A 4 (wie Anm. 79), Nr. 307, 519. Zwar hatten die Interessen der Gesandten hinter den offiziell zu vertretenden Interessen zurückzustehen; wenn sie aber nicht, so die schwedische Instruktion, in Konflikt mit den Interessen Königin Christinas gerieten, konnten sie diese durchaus verfolgen.Vgl. APW I 1 (wie Anm. 69), Nr. 17, 243, Übersetzung, ebd. Nr. 17a, 302.Problematisch wurde es, wenn die Einzelinteressen konträr zu den Interessen der Gemeinschaft standen, wie es der theoretische Diskurs prophezeite. So erklärten die kaiserlichen Gesandten einer Deputation der katholischen Stände: „Daß man friedt machen und einem ieden in seinem particularinteresse satisfaction geben solle, were unmöglich zu erhalten.“Deputation der katholischen Stände bei den kaiserlichen Gesandten, Münster 1646 Dezember 20, APW III A 4, 1 (wie Anm. 90), Nr. 72, 494. Einzelinteressen bekamen eine geringere Priorität beigemessen, wurden aber nicht grundsätzlich abgelehnt. Wer mit seinem Insistieren den Frieden angeblich behinderte, dem wurde dies entsprechend angelastet.Bereits dem sächsischen Kurfürsten war Verrat an den protestantischen Interessen zugunsten von Eigeninteressen vorgeworfen worden, nachdem er ein Bündnis mit dem Kaiser eingegangen war. Vgl. Ralf-Peter Fuchs, Über Ehre kommunizieren – Ehre erzeugen. Friedenspolitik und das Problem der Vertrauensbildung im Dreißigjährigen Krieg, in: Martin Espenhorst (Hrsg.), Frieden durch Sprache? Studien zum kommunikativen Umgang mit Konflikten und Konfliktlösungen. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung Universalgeschichte, Beih. 91.) Göttingen 2012, 61–80, 69 f.Gleiches galt, wenn ein Individuum seine Interessen über das Gesamtinteresse stellte, wie es die Kaiserlichen Mazarin und dem französischen König vorwarfen:„Wie geringer lust bey denen cronen zum friden erscheint, bezeugen unßere heutige allergehorsamste relationes. Sie richten ihre consilia nach den waffen unndt des in Frankhreich individuel interesse.“Trauttmansdorff an Ferdinand III., Münster 1646 September 11, APW II A 4 (wie Anm. 79), Nr. 339, 579.Dies deckt sich mit Rohan, der vor Irreführungen durch leitende Minister warnte.Vgl. Rohan, De l’interest (wie Anm. 40), 69–78; ders., Interesse (wie Anm. 40), 126–143. Vgl. Paul, Counsel (wie Anm. 46), bes. 151–160. Dass Einzelinteressen, gerade von führenden Ministern, durchaus taktische Vorteile bieten konnten, zeigen die kaiserlichen Überlegungen zu einer Standeserhebung des schwedischen Reichskanzlers Axel Oxenstierna, Vater des Gesandten Johan Oxenstierna: „Waß sein khan, daß rathe ich, thuen Euer Kaiserliche Majestät, dan an diesem interesse des Oxenstirn ligt gar alleß.“Trauttmansdorff an Ferdinand III., Münster 1646 Juni 26, APW II A 4 (wie Anm. 79), Nr. 221, 373. Das Erkennen und Nutzen der Interessen Dritter gehörte zur zeitgenössischen Verhandlungskunst. Vgl. Jean-Claude Waquet, Verhandeln in der Frühen Neuzeit: Vom Orator zum Diplomaten, in: Thiessen/Windler (Hrsg.). Akteure der Außenbeziehungen (wie Anm. 3), 113–131, bes. 118.In der diplomatischen Praxis dominierte eine pragmatische Sicht: Interessen an sich waren weder negativ noch positiv. Sie dienten der Handlungsanalyse, in deren Rahmen eine Wertung der je spezifischen Interessen vorgenommen werden konnte. Es gab keine Interessenfelder, die per se als legitim oder illegitim eingestuft wurden. Hier waren die Prioritätensetzung und die Perspektive ausschlaggebend. Was der eine als Verrat an den Interessen des Gemeinwohls betrachtete, wertete der andere genau als deren Beförderung. Eine negative Abwertung von Interessen diente oft der Legitimierung der eigenen Position. Interesse wurde somit zur Argumentationsfigur im Kampf um die Deutungshoheit.4. Interessenanalyse als diplomatische AufgabeDie Zeitgenossen waren sich der Interessenvielfalt und des damit einhergehenden Konfliktpotentials bewusst, wie Contarinis eingangs zitierte Reflexion verdeutlicht.Vgl. Anm. 1. Tatsächlich waren es die Gesandten, die den Interessenausgleich – nach außen wie nach innen – erreichen mussten. Sie waren auch in der eigenen Wahrnehmung per definitionem Interessenvertreter.Vgl. z. B. Diarium Volmar 1648 Januar 24, APW, Serie III, Protokolle, Verhandlungsakten, Diarien, Varia, Abt. C: Diarien, Bd. 2: Diarium Volmar Teilb. 2, bearb. v. Roswitha Philippe, Joachim Foerster. Münster 1984 (APW III C 2, 2), 958. Gerade die Vertreter der Hauptmächte und der Kurfürsten hatten zudem für die Interessen Dritter, kleinerer Mächte, einzutreten. Der kaiserliche Prinzipalgesandte Maximilian von Trauttmansdorff musste z. B. die Vielfalt der Interessen Ferdinands III. und dessen Verbündeter in Einklang bringen, was zu Konflikten mit den Partnern Kurbayern und Spanien führte. In einem Brief an den Kaiser wehrte er sich gegen bayerische Kritik an seiner Person: „Euer Kaiserliche Majestät undt dero hauß interesse hete ich also sollen zuruckhlassen, aber ihrer churfürstlichen durchlaucht anligen pro conditione sine qua non halten. Seindt guete zumutungen vor mich.“Trauttmansdorff an Ferdinand III., Münster 1646 März 23, APW II A 3 (wie Anm. 86), Nr. 225, 438. Interessenabwägung diente in diesem Fall der Legitimation des einzelnen Gesandten.Entsprechend ihrer Rolle als Interessenvertreter gehörte die Interessenanalyse zu den zentralen Aufgaben der Gesandten. Einschlägige Betrachtungen finden sich in den Relationen: Welche Interessen hatten der Gegner bzw. die Verbündeten? Wie verhielten sich diese zu den eigenen Interessen?Vgl. z. B. Servien an Lionne, Münster 1645 März 25, APW, Serie II: Korrespondenzen, Abteilung B: Die französischen Korrespondenzen, Bd. 2: 1645, bearb. v. Franz Bosbach unter Benutzung der Vorarbeiten von Kriemhild Goronzy und unter Mithilfe von Rita Bohlen. Münster 1986 (APW II B 2), Nr. 64, 207. Instruktionen und interne Gutachten lieferten Analysen oft in verdichteter Form, wie das kaiserliche Beispiel gezeigt hat. Sie bildeten – augenscheinlich auf Basis einer Aufschlüsselung der Interessen – die Leitlinie für die Regierung bzw. die Gesandten vor Ort.Die zeitgenössische Verwendung des Interessenbegriffs zeigt einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Während der theoretische Diskurs sich aus verschiedenen Strängen – politischer Theorie, Naturrecht, Moraltheologie sowie Ökonomie – zusammensetzte, die relativ autonom nebeneinander herliefen, war seine Verwendung in der diplomatischen Praxis umfassender. Auch hier liegt, den theoretischen Diskurs spiegelnd, der Schwerpunkt auf Interesse im Sinne von Staatsräson, gleichzeitig finden aber auch moraltheologische Überlegungen zum interessengeleiteten Wesen des Einzelnen ebenso Eingang, wie der ursprünglich ökonomische Kontext sichtbar bleibt.IV.Perspektiven: Interesse als analytisches KonzeptDie zeitgenössische Verwendung des Interessenbegriffs im diplomatischen Kontext zeigt, dass Interesse (1) der Beschreibung menschlichen Verhaltens und (2) der Verortung der eigenen Position sowie der von Dritten zueinander diente. Als Element politischer Sprache erfüllte Interesse eine integrative bzw. exkludierende Funktion, das heißt es wurde genutzt, um zu werten, war aber nicht per se wertend.Diese Aspekte aufgreifend nutzt ein kulturgeschichtlich-fundiertes Interessenkonzept den beschreibenden Charakter des Begriffs, mit Hilfe dessen sich relationale Verhältnisse zwischen Akteurinnen bzw. Akteuren und Bezugspunkt erfassen lassen.Vgl. Pradetto, Interesse (wie Anm. 12), 34; Neuendorff, Begriff (wie Anm. 18), 17. Dieses Verhältnis wird in seiner Beschaffenheit geprägt durch den jeweiligen Normen- und Wertehorizont, der sich u. a. in der spezifischen Rollenvielfalt der Akteurinnen und Akteure manifestiert. Aus unterschiedlichen Rollen ergeben sich unterschiedliche Interessen. Die Einbindung des Rollenkonzepts ermöglicht es erstens, Interesse als normbasiert zu beschreiben, und zweitens, potenzielle interne Interessenkonflikte als strukturell bedingt zu erfassen. Zur weiteren Charakterisierung des Interesses und seines Stellenwertes ist der Faktor Zeit zu berücksichtigen, das heißt, welche Dringlichkeit hat das Interesse? Ist es kurz- oder langfristiger Natur? Im Mittelpunkt steht dabei das Verhältnis zwischen Akteur und Bezugspunkt, nicht Akteur und Bezugspunkt an sich.Ausgangspunkt einer solchen Analyse kann die zeitgenössische Eigendefinition des Interesses sein. Im vorliegenden Fall eignen sich die diplomatischen Instruktionen für eine solche erste Untersuchung, da die Akteurinnen und Akteure hier ausdifferenzieren, worin sie ihre Interessen sehen und wie sie diese erreichen wollen. Dabei wird nicht immer der Begriff selbst verwendet, aber es wird ein relationales Verhältnis beschrieben zwischen Akteurin bzw. Akteur und begehrtem Bezugspunkt. Dies bildet die Grundlage für die weitere Analyse, die über die Selbstdefinition der Interessenlagen der Akteurinnen und Akteure hinausgeht. Wer will was wie und mit welcher Priorität? Besonders klar treten Interessen in Konfliktfällen hervor, wenn die Akteurinnen und Akteure das Bezugsobjekt nicht haben können, darum konkurrieren müssen oder die eigenen Interessen in Widerspruch zueinanderstehen.Dabei ist der kommunikative Kontext zu beachten: Gegenüber wem wird welches Interesse wie artikuliert? Wie wird die eigene Interessenformulierung als strategisches Mittel in Verhandlungen eingesetzt? Inwieweit kann das Spiel mit den Rollen bei der Durchsetzung der Interessen helfen? Ebenso ist nach den Grundlagen der Interessenbildung zu fragen. Interesse ist keine feste Kategorie, sondern unterliegt gesellschaftlichen Normen und Werten und damit dem Wandel. Was definiert eine Gesellschaft als erstrebenswert? Im Kontext der Außenbeziehungen des 17. Jahrhunderts spielen Religion, Dynastie, Tradition, Reputation und Ehre eine zentrale Rolle, aber auch Sicherheitsdenken oder ökonomische Faktoren. Eine Analyse der internen Interessengewichtungen innerhalb von Entscheidungsfindungsprozessen kann somit auch Auskunft über die Gewichtung verschiedener Normen und Werten und Rollendynamiken geben.Ein solches Verständnis von Interesse ermöglicht es erstens, Mikro- und Makroebene frühneuzeitlicher Außenbeziehung zu verklammern, da es sich weder auf die Untersuchung von Staatsinteressen noch auf Interessen von Individuen beschränkt. Vielmehr lassen sich diese im Wechselspiel zueinander untersuchen. Zweitens ist es nicht auf den hier im Fokus stehenden Bereich der Außenbeziehungen beschränkt. Ebenso können, wie bereits die Zeitgenossen erkannten, innenpolitische oder verfassungsrechtliche Konstellationen untersucht werden. Hierzu wäre zunächst eine Betrachtung der jeweiligen zeitgenössischen Diskurse vonnöten.Der Gebrauch von Interesse in der diplomatischen Praxis des 17. Jahrhunderts und in den modernen Wissenschaften weisen Ähnlichkeiten auf. In beiden Fällen ist „[the] concept of interest a way of talking and thinking about the way that people have come to pursue fundamental goals and values”.Swedberg, Interest (wie Anm. 8), 104. Es geht um die „Eigenpositionierung in der Umwelt, der Gestaltung der Beziehungen zur Umwelt“.Pradetto, Interessen (wie Anm. 12), 38. Thomas Nicklas forderte, den zeitgenössischen Interessenbegriff als Inspiration für die Analyse von Machtverhältnissen zu verwenden. Allerdings ging er von einem klassischen Interessenbegriff aus, der Interesse als rationale und objektive Kategorie beschreibtVgl. Nicklas, Politik (wie Anm. 24), 194., was aber das analytische Potenzial, das dem Begriff innewohnt, verschenkt. Vielmehr ist Interesse im dargelegten Sinne als eine beschreibende, relationale Kategorie zu verstehen, die helfen kann Akteurs-Bezugsobjekt-Konstellationen zu analysieren – im 17. wie im 21. Jahrhundert.Zusammenfassung Seit dem 17. Jahrhundert gilt Interesse als „Schlüsselkategorie“ der politischen Sprache (Herfried Münkler). Auch heute ist der Begriff in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen präsent: in den Internationalen Beziehungen, den Politikwissenschaften, der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften, der Anthropologie oder den Geschichtswissenschaften. Häufig erscheint Interesse dabei als wertneutrale, feststehende und vielfältig einsetzbare Kategorie. Dabei beschreibt es zunächst ein relationales Verhältnis zwischen Akteur und Bezugsobjekt. Was als Interesse definiert wird, unterliegt gesellschaftlichen Normen und Werten und damit dem Wandel.Dieser Beitrag untersucht diesen prominenten, aber oft unscharf bleibenden Terminus, indem er zunächst einen Überblick über seinen Stellenwert in verschiedenen modernen Wissenschaftsdisziplinen gibt, um dann den frühneuzeitlichen Gebrauch im politiktheoretischen Diskurs und in der diplomatischen Praxis zu betrachten. Als Fallstudie dient die diplomatische Kommunikation auf dem Westfälischen Friedenskongress.Die zeitgenössische Verwendung des Begriffs im diplomatischen Kontext zeigt, dass Interesse (1) der Beschreibung menschlichen Verhaltens und (2) der Verortung der eigenen Position sowie der von Dritten zueinander diente. Als Element politischer Sprache erfüllte Interesse eine integrative bzw. exkludierende Funktion. In diesem Sinne kann ein kulturgeschichtlich-fundierter Ansatz den beschreibenden Charakter des Begriffs aufgreifen. Interesse ist somit eine beschreibende, relationale Kategorie, die helfen kann, Akteurs-Bezugsobjekt-Konstellationen zu analysieren – im 17. wie im 21. Jahrhundert.WidmungDer Aufsatz präsentiert erste Ergebnisse meines vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Österreich mit einem Elise-Richter-Stipendium geförderten Habilitationsprojektes „Im Geflecht der Interessen. Kaiserliche und reichsständische Gesandte auf dem Westfälischen Friedenskongress (1643–1649)“ (FWF V 748-G), https://www.oeaw.ac.at/ihb/forschungsbereiche/geschichte-der-habsburgermonarchie/forschung/westfaelischer-friedenskongress (29.11.2021).

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Historische Zeitschriftde Gruyter

Published: Jun 1, 2022

Keywords: Diplomatiegeschichte; Westfälischer Frieden; Normen; history of diplomacy; Peace of Westphalia; norms

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