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ZusammenfassungDie historische Zeitforschung neigt dazu, die Potenziale der modernen Zeitkultur mit ihrer Praxis gleichzusetzen. Neue Möglichkeiten, was die Reisegeschwindigkeit von Zügen, die Synchronisation von Bahnhofsuhren oder die Regulierung der Bewegungen des reisenden Publikums betrifft, definieren das Zeitbewusstsein und die Zeitverwendung einer Epoche jedoch nur unvollständig. Gerade beim Umgang mit der Zeit bleiben orts- und kontextspezifische Alltagserfahrungen von entscheidender Bedeutung. Diese These wird im vorliegenden Beitrag am Beispiel britischer und deutscher Eisenbahnpassagiere entwickelt. Mit der zunehmenden Beschleunigung und Verdichtung des Eisenbahnverkehrs stieg das Risiko von Verspätungen – und zwar unabhängig davon, ob die Betreiber (wie in Großbritannien) private Gesellschaften oder (wie in Deutschland nach der Reichsgründung mehrheitlich) Staatsbetriebe waren. Und gleichzeitig verringerte sich im auf Pünktlichkeit getrimmten Eisenbahnzeitalter die Wartebereitschaft der Menschen. Ungeduldiges Warten war nicht primär Ausdruck nationaler kultureller Eigenschaften, sondern eine Begleiterscheinung der Beschleuningung und Verdichtung des Verkehrs, wobei auch in diesem Bereich der Modernisierung nicht von einer einfachen Ursache-Wirkung-Beziehung auszugehen ist: Sozioökonomischer und technologischer Wandel und Veränderungen der öffentlichen Erwartungen und Wahrnehmungen beeinflussten sich bei diesem Vorgang gegenseitig. Mit ihrer Ungeduld brachten Einsenbahnpassagiere ihre Enttäuschung über das Versprechen einer berechen- und damit kontrollierbaren Moderne zum Ausdruck. Als weitverbreitetes Gefühl wurde Ungeduld zum Signum der modernen Zeit. Bis zum Beginn des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts legten britische Bahnpassagiere deutlich mehr Ungeduld an den Tag als deutsche. Diese Differenz verringerte sich jedoch um 1900 spürbar. Nun entpuppte sich die Ungeduld mit der Zeit auch in Deutschland als Folge und Ferment einer Zeitkultur, die das Leben viel umfassender prägte, als es manchen lieb war.
Historische Zeitschrift – de Gruyter
Published: Feb 5, 2019
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